Saints Row
Wir schreiben das Jahr 2006 nach Christus und Rockstars GTA-Reihe herrscht mit verchromter Faust über das gesamte Genre der Open-World-Gangster-Simulationen. Über das gesamte Genre? Nein! Das für die “Descent”- und “Red Faction”-Spiele bekannte Volition Studio bringt in diesem Jahr das erste Saints Row auf den Markt, um dem Thron des Königs ein paar Beine abzusägen. Ein Plan, der (auch weil das Spiel sich selber nicht allzu ernst nimmt) durchaus erfolgreich war. Seither schickte Volition noch drei weitere Teile ins Feld und schuf mit der Serie eine ernstzunehmende Alternative für alle Spieler, denen die “Grand Theft Auto”-Spiele zu ernst, oder Rockstars Veröffentlichungs-Rhythmus zu langsam waren. Jetzt gibt es, nach einer längeren Pause, den nächsten Teil der Reihe, der ein Reboot darstellt und die Geschichte der Saints-Crew noch einmal von vorne erzählen möchte. Wie er sich dabei anstellt, erfahrt ihr in unserem Test.
Vier Freunde fürs Leben und Sterben
Schauplatz des Spielgeschehens ist die fiktive Stadt Santo Ileso in unserer Gegenwart, die sich irgendwo im Südwesten der USA befindet. Aufgeteilt zwischen den Clans der Sport und Autos liebenden Panteros, den systemkritischen Idols und den Söldnern der Marshall Defense Industries, kommt es in der Metropole immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen, denen Bevölkerung und Polizei meist hilflos gegenüber stehen. Im Zentrum des Chaos und zwischen allen Fronten stehen lebt die Gruppe unserer vier Protagonisten, die aus der Panteros-Mechanikerin Neenah, dem Idols-DJ Kevin, dem Jungunternehmer Eli und unserem Charakter besteht, den alle nur “Boss” nennen und der jüngst Mitglied der Marshall-Gruppe geworden ist. Ungeachtet der Rivalität zwischen ihren Gruppen, sind die vier gute Freunde und klar definierte WG-Regeln klären zu jeder Zeit, wann und wie ein Mitbewohner Feinde überfallen oder sogar umbringen kann. Schließlich ist man zivilisiert und die Miete für die WG muss ja auch regelmäßig bezahlt werden. Das alles ändert sich im Verlauf der ersten Missionen (von denen wir nicht zu viel verraten wollen) und gipfelt im Entschluss der Gruppe, ihre alten Verbindungen zu kappen und eine neue und bessere Gang zu gründen, um die Stadt selber zu übernehmen.
Fans der “Saints Row”-Serie werden an dieser Stelle vielleicht das erste mal erschrocken aufhorchen, da der neue Teil die Verrücktheiten spürbar reduziert und sich lieber auf seine Charaktere, als auf Angriffe von Außerirdischen konzentriert. Das bedeutet aber nicht, dass die Entwickler bei Volition den zum Teil plumpen Humor und die übertriebene Action, die den Stil der Serie ja entscheidend mitprägten jetzt abgeschrieben haben. Beides wird auch im Reboot noch im großen Stil zelebriert, wurde allerdings in einigen Bereichen stellenweise entschärft, um den Titel, anders als die ersten beiden Teile, besser vermarkten zu können. Der Fokus auf den Charakteren und deren Freundschaft tut dem Spiel dabei ziemlich gut und so haben es die Entwickler geschafft, uns Antihelden zu präsentieren, für die wir trotz all ihrer Fehler immer wieder Sympathie aufbringen können.
Der verrückte Cousin des Grand Theft Auto
Bevor es aber an den Aufbau eines neuen Imperiums geht dürft ihr euch zuerst einmal im Charaktereditor austoben. Der gibt euch allerlei Möglichkeiten das Aussehen eurer Figur anzupassen und bietet dank Schieberegler für Brust- und Leistengegend und einem frei einstellbaren Geschlecht alle Optionen, die man sich in diesem und allen anderen Bereichen wünschen kann. Einmal im Spiel angekommen, geht das Spiel bereits in der ersten Mission in die Vollen und zeigt euch, worauf ihr euch einstellen könnt: Viel Action und schnelle Feuergefechte, in denen ihr meistens alleine gegen dutzende Gegner ins Feld zieht. Während Genrevertreter wie die “Grand Theft Auto”-Spiele dabei aber auf eine gewisse Realitätsnähe achten, wodurch die Figuren vergleichsweise wenige Treffer einstecken können, habt ihr in Saints Row weitestgehend leichtes Spiel. Das gilt sowohl für die Kämpfe als auch für die Fahrten mit Autos, die besonders bei vollem Tempo alles wegrammen, was nicht bei “drei” auf den Bäumen ist - Bäume nebenbei eingeschlossen. Das fühlt sich die meiste Zeit über witzig an, da das Spiel oft gar nicht versucht, besonders realistisch zu sein. Und doch nimmt die Beinahe-Unverwundbarkeit dem Spiel gelegentlich die Herausforderung. Dafür könnt ihr die Schwierigkeit aber auch im laufenden Spiel jederzeit zwischen fünf Stufen einstellen. Der Unterschied beim Schwierigkeitsgrad im Vergleich zu anderen Genrevertretern fiel uns besonders bei den Kämpfen mit der örtlichen Polizei auf. Während das Gesetz in anderen Spielen nach einer Weile Hubschrauber und Panzer auffährt, um uns zu stoppen, kann man dem Gesetz in Santo Ileso meistens schon entgehen, indem man während einer Verfolgungsjagd drei bis vier Streifenwagen durch gezielte Ramm-Attacken zerstört. Spektakuläre Fluchtversuche und damit verbundene Erfolgserlebnisse sind damit eher Mangelware.
Das Design der unterschiedlichen Missionen offenbart einige der Stärken und Schwächen des Spiels, wobei die Hauptquestreihe an dieser Stelle ein klarer Höhepunkt ist. Dank der unterhaltsamen, wenn auch oft nicht sonderlich tiefsinnigen Dialoge werden besonders die Hauptfiguren innerhalb der Quests zum Leben erweckt und die Aufgaben bieten so viel Abwechslung wie man mit der Kombination aus den Tätigkeiten “Fahren” und “Schießen” nur erreichen kann. Weitere Abwandlungen der üblichen Gemetzel, wie die Missionen in denen ihr an Live-Rollenspielen teilnehmt und alle Gegner passend zur Handlung nur so tun, als wenn sie sterben würden, lockern das ganze noch ein wenig mehr auf und bieten immer wieder Gelegenheit für den einen oder anderen Lacher. Ebenfalls noch unterhaltsam, aber schon etwas weniger interessant sind die Missionen, mit denen ihr im Laufe des Spiels euer Imperium ausweitet, in dem ihr in jedem Teil der Stadt ein neues Geschäft hochzieht und für dieses Aufgaben erledigen müsst. Einen Laster voll Atommüll unbeschadet zu einer Deponie zu fahren, ist in den ersten fünf Missionen noch ganz nett. Das Ganze aber insgesamt 14 Mal und zum Teil quer durch die ganze Stadt machen zu müssen, reizt dann schon weniger. Zusammen mit den in jedem Bezirk verteilten Sammelmissionen entsteht hier der Eindruck, einen Ableger der berüchtigten Ubisoft-Formel vor sich zu haben, mit dem die Spielzeit für Sammler vervielfacht wird. Die Spielwelt, rund um die Stadt Santo Ileso, die etwas kleiner als die Karte in GTA5 ausfällt, kann da leider auch nicht wirklich entgegenwirken, da sie mit immer neuen Aufgaben, die wir im Laufe des Spiels freischalten, an einigen Stellen durchaus überfüllt wirken kann. Ihre geringere Größe bedeutet allerdings nicht, dass ihr auf den Straßen der Stadt nicht trotzdem nach Herzenslust rasen und euch mit Gegnern Verfolgungsjagden liefern könnt und die schöne Gestaltung der Welt lädt auch immer wieder zu einem kleinen Abstecher in entlegene Winkel der Metropole oder ihr Umland ein. In einigen Gebieten könnt ihr im Spiel Schnellreisepunkte freischalten, die euch in Sekunden durch die Welt teleportieren. Diese wurden aber bewusst sparsam platziert, sodass ihr die meiste Zeit zu Fuß oder am Steuer verbringen werdet.
Wenn ihr nicht gerade auf Reisen seid oder euch in eurer Basis befindet, stehen die Chancen gut, dass euch mindestens eine der gegnerischen Fraktionen ans Leder will. Zu eurem Glück steht euch für eure Verteidigung ein mittelschweres Arsenal zur Verfügung, das ihr in den Waffenläden der Stadt beliebig erweitern könnt. Das Geld hierfür erhaltet ihr zum Teil durch Missionen, zum Teil durch die Geschäfte, die ihr überall in der Stadt aufbaut und ansonsten in Form von Beute, die ihr von besiegten Gegnern erhaltet. Durch das erfüllen weiterer Auflagen, das Sammeln von Charakterleveln und das Aufwerten der Waffen könnt ihr diese (und auch euch) im Laufe des Spiels erheblich verstärken, sodass auch größere Gegnermassen mit der Zeit kein Problem mehr darstellen. Neue Fähigkeiten, angefangen mit der ersten Aktion, einem Gegner eine Granate in die Hose zu stecken, um ihn dann zu seinen Kameraden zu werfen, geben euch weitere Möglichkeiten, die feindlichen Gangs das Fürchten zu lehren. Gleichzeitig offenbaren sie aber auch, in welchem Maß Saints Row das Töten von Gegnern zelebriert. Zwar sind unsere vier Protagonisten immer bemüht, nur die wirklich schlimmen Finger unter die Erde zu bringen und die Selbstironie des Spiels verleiht den Kämpfen den Charme eines Deadpool-Filmes, sodass dieser Teil der Reihe wohl nicht auf dem Index landen wird. Dennoch werden besonders die massenmörderischen Fähigkeiten eures Charakters zelebriert und damit zum Teil auch bagatellisiert, sodass die Eltern unter euch den Titel nicht unbedingt mit oder neben Minderjährigen spielen sollten.
Technik
Nicht nur der Himmel über Santo Ileso, auch die Technik des jüngsten Saints Row bietet noch viel Luft nach oben. Das beginnt schon bei kleineren Aspekten, wie den Untertiteln, die ihr zur ausschließlich englischen Synchronisation dazu schalten könnt, die aber viel zu schnell durchlaufen, als dass wir ihnen in unserem Test hätten folgen können. Doch auch die Grafik hat so ihre Probleme, obwohl Volition sich hier vorbildlich um Anpassungsmöglichkeiten bemüht hat. Fünf Voreinstellungen lassen euch auf der Series X und der PS5 die Auflösung zwischen Full HD, 2K- und 4k-Grafik durchschalten, wobei die ersten beiden Optionen jeweils noch einen separaten Modus bieten, der entweder die Framerate oder die Grafikqualität mit Raytracing bevorzugt. Dank starrer Auflösung (ihr bekommt durchgehend die eingestellte Pixelrate) und zum Teil stark schwankenden Frameraten, sind das untere und das obere Ende der grafischen Optionen aber nur für Spieler denen Bildrate beziehungsweise Bildqualität über alles gehen interessant. Für die meisten eignet sich das 2K-Mittelfeld, das einen guten Kompromiss bietet und im laufenden Spiel auch sehr gut aussieht. Dennoch ist die unvollständige Optimierung gerade für Besitzer einer aktuellen High-End-Konsole sehr schade und es bleibt zu hoffen, dass Patches, wie das jüngst erschienene 1.03 Update, noch mehr aus der Engine herausholen. Dass diese eher früher als später erscheinen werden, ist ziemlich sicher, denn das Spiel wird von diversen Bugs heimgesucht, die selten tragisch, aber trotzdem störend wirken und dem Titel ein negatives Image verpassen, das er eigentlich nicht verdient hat. Gerade die verbleibenden technischen Aspekte unterstreichen diesen Eindruck, denn Ladezeiten und Steuerung lassen kaum einen Wunsch offen. Besonders die Kontrolle während der Schusswechsel funktionierte tadellos, sodass wir auch in den heftigsten Feuergefechten nie das Gefühl hatten, aufgrund der Steuerung mit Gamepad im Nachteil zu sein. Der Star des Spiels ist aktuell aber ohne Frage der Soundtrack für den sich Deep Silver Volition nicht nur die Rechte an allerlei bekannten Songs gesichert hat, sondern auch noch einen eigenen sehr guten Soundtrack komponieren ließ. Zusammengefasst ist Saints Row im heutigen Zustand kein schlechtes Spiel, hat aber noch einige Baustellen, die von den Entwicklern schnellstmöglich behoben werden sollten.
Den Koop-Modus des Spiels konnten wir im Rahmen unseres Tests leider nicht anspielen. Dieser bietet euch aber laut den Entwicklern die Möglichkeit, sämtliche Aktivitäten im Spiel zu zweit zu erleben und kann dank Cross-Gen-Funktionalität auch ältere Plattformen mit neuen Konsolen desselben Herstellers verbinden. Mit der Playstation 5 könnt ihr also zum Beispiel mit Freunden spielen, die das Spiel für die PS4 gekauft haben, dafür aber nicht mit XBox-Spielern.
Vor dem Fazit
Wer sich im Internet einmal ein wenig nach Bewertungen für den aktuellen “Saints Row”-Teil umguckt, wird schnell bemerken, dass die Meinungen zum Titel bei Spielern und Testern der Presse teilweise ungewöhnlich weit auseinander gehen. Warum das so ist, hat zumindest zwei mögliche Gründe, die wir uns vor unserer Bewertung einmal ansehen wollen:
Zum einen ist das Reboot im Vergleich zu seinen Vorgängern deutlich bodenständiger und an das aktuelle soziale Klima unserer realen Welt angepasst. Vorbei sind die Zeiten, in denen ihr virtuelle Frauen mit einem Riesendildo verprügeln konntet oder als Präsident der Vereinigten Staaten eine Alien-Invasionen abwehren musstet. Stattdessen gibt es jetzt umfassende Charakteranpassungen, in denen das Geschlecht nahezu übergangslos an alle Wünsche angepasst werden kann und eine Handlung, die sich in einem überschaubaren Rahmen um ein wenig Realismus bemüht. Das sind für sich genommen und auf das gesamte Spiel betrachtet keine allzu großen Umstellungen, zumal der Titel immer noch vor Albernheiten und massiv übertriebener Action überquillt, kann aber trotzdem manchem Fan der vorherigen Teile vor den Kopf stoßen. Zum anderen wären da die vielen kleinen Fehler, die das Spiel in seiner aktuellen Form stellenweise unpoliert wirken lassen und damit ebenfalls für einen mehr oder weniger nachvollziehbaren Punktabzug bei vielen Bewertungen sorgen. Ein Problem, das schon so manchem großen Titel in den letzten Jahren zum Verhängnis wurde. Auch wir reduzieren die Wertung für den Titel aufgrund seiner technischen Mängel um einen halben Punkt. Mehr wäre in diesem Fall nur schwer vertretbar, da unsere Testversion auf der Series X nie ernste Probleme gemacht hat.
Fazit:
Schlussendlich ist das aktuelle Saints Row Reboot ein durchaus witziges und unterhaltsames Spiel, das mit einer gut geschriebenen Handlung, sympathischen Charakteren und viel Inhalt punkten kann. Zwar sorgen viele sich wiederholende Sammelmissionen stellenweise für ein wenig Eintönigkeit, doch selbst wenn ihr diese Aufgaben auslasst und euch nur auf die tolle Haupthandlung konzentriert, werdet ihr mit dem Titel entspannte 20 Stunden zu tun haben. Wer dringend eine Überbrückung bis zum nächsten GTA-Teil braucht, sich nicht an den aktuell noch vorhandenen Fehlern im Spiel stört und nicht zwingend auf den teils derben “Humor” der Vorgänger besteht, kann gerne zugreifen. Für alle anderen, die an dem Genre grundsätzlich Interesse haben, kann das Spiel bedenkenlos auf einen Wunschzettel und ein wenig später geholt werden. Spaß wird es dann auch noch machen.