Angespielt: Genshin Impact
Umittelbar nach seiner Ankündigung wurde Genshin Impact von der Internetgemeinde ausgelacht, da es sich bei dem Titel um einen extrem offensichtlichen Klon von Breath of the Wild handelte. Es zirkulierten Bilder von einer Messe, auf der sich vor Monitoren mit einem Trailer des Spiels ein Meer aus von Zelda-Fans ausgestreckten Mittelfingern erstreckte. Doch das scheint Schnee von gestern: Das vom chinesischen Entwickler MiHoYo auf den Kopf getroffene Charakterdesign brachte dem Spiel seinen liebevollen Spitznamen "Breath of the Waifu" ein, und schließlich wurde der für PS4, PC, iOS und Android entwickelte Titel bereits an seinem Releasetag über 10 Millionen Mal heruntergeladen.
In der Veröffentlichungsversion wirkt Genshin Impact nicht mehr wie ein dreister Klon, wenngleich die Parallelen zum Nintendo-Titel natürlich weiterhin offensichtlich sind. Die Hilichurls sind im Prinzip nur Bokoblins mit leicht verändertem Aussehen; das Klettern und Fliegen wurde unverändert aus Zelda übernommen. Das Aussehen der Spielwelt ist im Vergleich zu den ersten Screenshots deutlich eigenständiger geworden und setzt auf eine Anime-Optik, die noch etwas bunter und mit satteren Farben ausgestattet ist als ihre Inspirationsquelle. Darüber hinaus bietet Genshin Impact mehrere RPG-Systeme zum Grinden von Statuswerten und an westliche RPGs angelehnte Dungeon-Instanzen, die in Zelda überhaupt nicht vorkommen. Und nicht zuletzt wäre da natürlich der Fanservice: Amber macht beim Zielen mit dem Bogen einfach eine deutlich bessere Figur als Link. Allein das dürfte viele Spieler dazu überreden, dem Free-2-Play-RPG zumindest eine Chance zu geben.
Ein lineares Single-Player-Adventure?
Die Story startet mit zwei namenlosen Zwillingen, die aus unbekannten Gründen durch Dimensionsportale von einer Welt zur nächsten hüpfen. In Teyvat werden die beiden jedoch von einer Göttin aufgehalten und wir müssen uns für eines der beiden Geschwister entscheiden - früher hätte man an dieser Stelle aus den Optionen "männlich" und "weiblich" sein Geschlecht gewählt. Nach der Wahl wird der jeweils andere Zwilling entführt und wir sitzen in Teyvat fest, wo wir auf der Suche nach unserem verschollenen Familienmitglied erst mal die Ritter von Mondstadt (deren Name von den englischen Synchronsprechern "Monstead" ausgesprochen wird) im Kampf gegen den Drachen Stormterror unterstützen.
Genshin Impact spielt sich dann auch erst mal wie ein typisches Open-World-Spiel. In einer offenen Spielwelt dürfen wir Schnellreisepunkte aktivieren, Crafting-Materialien und Collectibles einsammeln und entweder kleine Rätsel lösen oder Gegner verdreschen, um an unzählige Schatzkisten zu gelangen. Dabei werden wir auch von einigen Main-Quests an die Hand genommen, die einen starken Tutorial-Charakter haben und uns beibringen, wie wir unsere Charaktere sowie deren Ausrüstung verstärken. Grinding steht dabei im Vordergrund und wir brauchen entweder große Mengen bestimmter Items oder seltene Materialien, um Level-Meilensteine zu erreichen.
Tatsächlich ist gefühlt jeder Quadratmeter der Spielwelt von Genshin Impact mit irgendeinem Collectible gespickt, das in irgendeiner Weise zum Aufleveln unserer Charaktere verwendet werden kann. Der Titel verzichtet außerdem auf ein Energie-System, das die Länge eurer Spielsitzungen künstlich beschränken würde - wer mehrere Stunden lang am Stück in Teyvat abtauchen will, kann das auch tun. Der Umfang des Titels ist schon jetzt gigantisch und dürfte sich während der Lebensdauer des Spiels noch mehr als verdreifachen.
Die Charakter-Lotterie
Natürlich hat niemand etwas zu verschenken, und Free-2-Play-Titel aus dem asiatischen Raum sind besonders berüchtigt dafür, dass sie ihren Spielern völlig unrealistische Beträge aus der Tasche ziehen. Wenn ihr zusätzlich zu den Figuren, die ihr recht schnell durch das absolvieren von Story-Quests erhaltet, noch weitere der insgesamt über 20 spielbaren Charaktere freischalten wollt, dürfte das sehr schnell sehr teuer werden. Da MiHoYo von der chinesischen Gesetzgebung dazu verpflichtet ist, die Gewinnchancen offenzulegen, können wir mit etwas Rechenaufwand abschätzen, wie viel Geld es kosten würde, einen bestimmten Charakter freizuschalten - etwa am Beispiel des Barden Venti, der drei Wochen nach dem Release des Spiels schon nicht mehr verfügbar sein wird.
Zunächst einmal müssen wir mit Echtgeld Edelsteine einkaufen, die wir gegen Kristalle eintauschen können, mit denen wir in einem Ingame-Shop sogenannte Intertwined Fates erwerben können, die dann wiederum zum Kauf von Loot-Boxen eingesetzt werden können. Diese enthalten fast immer eine nutzlose Waffe, mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,6% könnte sich aber auch ein besonders seltener und starker Charakter darin befinden. Wenn wir einen solchen Charakter getroffen haben wird es sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% um Venti handeln, außerdem erhalten wir spätestens nach 90 Loot-Boxen garantiert einen Fünf-Sterne-Charakter, und spätestens der zweite Fünf-Sterne-Charakter wird garantiert die begehrte Event-Figur sein. Wer da noch durchblickt kann sich ausrechnen, wie viel Geld er schlimmstenfalls ausgeben müsste, bis er Venti freigeschaltet hat: Nämlich bis zu 400€. Kein Wunder also, dass die Entwickler diesen Betrag hinter einem Wald aus Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Ingame-Währungen verstecken. In drei Wochen startet dann vermutlich schon das nächste Event und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Entwickler auch Bademoden oder Schulmädchen-Outfits über dieses System verlosen.
Tatsächlich könnt ihr Venti theoretisch auch als nicht zahlender User freischalten, denn die zum Kauf von Loot-Boxen benötigten Items könnt ihr in sehr kleinen Stückzahlen auch als einmalige Belohnung für diverse Aufgaben erhalten. Es wäre allerdings immenses Losglück erforderlich, um sich ohne horrende Kosten eine halbwegs vollständige Charakter-Bibliothek aufzubauen. Auch an anderen Stellen des Spiels wollen euch die Entwickler zu Echtgeldkäufen animieren: Das Kampfsystem erlaubt schon allein aufgrund der auf Smartphones ausgelegten, sehr steifen und simplen Steuerung keine Joypad-Akrobatik. Wenn ihr euch also irgendwann an einem Endgegner die Zähne ausbeißt, müsst ihr entweder stundenlang grinden oder tief in die Tasche greifen, um stärkere Waffen und Erfahrungspunkte für eure Charaktere zu kaufen.
FAZIT:
Genshin Impact ist im Free-2-Play-Sektor ein herausragend guter Titel - diese Aussage kann man durchaus so stehen lassen. Wer sich darauf einlassen will, erhält völlig kostenlos ein hübsch präsentiertes Open-World-Abenteuer, das sich spielerisch natürlich nicht mit Zelda: Breath of the Wild oder Ghost of Tsushima messen kann, aber auch weit von einem Totalausfall entfernt ist. Wenn ihr sogar Spaß daran habt, stundenlang Items zu farmen, um eure Charaktere immer weiter zu verstärken, birgt Genshin Impact ein nicht zu verachtendes Suchtpotential. Lasst aber um Himmels Willen die Finger von der über alle Maßen hinaus überteuerten Charakter-Lotterie: Lootbox-Konzepte wie das von Genshin Impact sind nicht ohne Grund in einigen EU-Ländern verboten. Und man kann natürlich darüber diskutieren ob ein Titel, der die Geldbeutel seiner Kunden derart schamlos ausweidet, überhaupt spielenswert ist - egal wie gut er abseits seiner Glücksspiel-Elemente auch sein mag. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Rational betrachtet lohnt sich der kostenlose Download aber auf alle Fälle - vor allem für Spieler, die auf Waifus stehen.