Test

Utawarerumono: Mask of Deception

Von Andreas Held am 17.02.2018

Irgendwann im letzten Jahr fragte ein großes deutsches Spiele-Magazin auf Facebook: „Welches Spiel hätte es am ehesten verdient, zu einem Film zu werden?“ Während die meisten Follower einen Action-Film zu Call of Duty oder eine Leinwand-Portierung der „tiefgründigen“ Story eines West-RPGs sehen wollten, antwortete ein Nutzer unseres Forums mit dem Titel eines Spiels, den die meisten der Mainstream-begeisterten Mitleser wohl nicht einmal aussprechen könnten: „Utawarerumono“. Viel mehr als dieses Stück Mundpropaganda wusste ich selbst nicht über die Mischung aus Taktik-RPG und Visual Novel von Aquaplus - aber es reichte, um mein Interesse zu wecken. Leider war 2017 so vollgepumpt mit großartigen Releases, dass der Titel dennoch an mir vorüberging. Knapp ein Jahr später konnte ich diese Wissenslücke nun endlich ausmerzen.

Ein objektiver Überblick...

Utawarerumono: Mask of Deception präsentiert sich äußerlich als Strategie-RPG im Stil von Disgaea oder Fire Emblem. Fans des Taktik-Genres, für die ein anspruchsvolles Spielsystem zum Pflichtprogramm gehört, können aber direkt an dieser Stelle aufhören zu lesen. Das Kampfsystem von Utawarerumono ist zwar relativ komplex und wartet unter anderem mit verschiedenartigen passiven Skills, stark unterschiedlichen Einheitentypen oder Paper-Mario-artigen Quick-Time-Events auf. Letztendlich sind die Kämpfe aber selbst auf dem höheren der beiden Schwierigkeitsgrade so einfach gehalten, dass diese Systeme nie zum Tragen kommen. Wer dazu in der Lage ist, seine Figuren halbwegs vernünftig zu positionieren, wird alle Kämpfe ohne nennenswerte Probleme überstehen können. Nur manchmal kann eine harte Zusatzbedingung, beispielsweise in einer Eskort-Mission, für einen Game-Over-Bildschirm sorgen.

Dass diese Gameplay-Schwächen bei der Bewertung von Utawarerumono kaum eine Rolle spielen liegt schlichtweg daran, dass die Kämpfe weniger als fünf Prozent der gesamten Spielzeit ausmachen. Den kompletten Rest füllt das Spiel mit hunderten Textsequenzen aus, die jeweils etwa 10 bis 20 Minuten lang sind und in sich geschlossene Kapitel erzählen, die in die Hauptstory oder zumindest eine Nebenhandlung eingebettet werden. Dabei habt ihr keinerlei Interaktionsmöglichkeiten - sogar auf Multiple-Choice-Fragen, mit deren Beantwortung ihr ein paar der folgenden Dialogzeilen beeinflussen könntet, wurde komplett verzichtet. Dieser vollständige Mangel an Interaktion ist selbst für Visual-Novel-Fans eher grenzwertig, da sie sich an der linearen, nicht beeinflussbaren Handlung ordentlich stören könnten.

...und ein subjektiver Eindruck

Dass Utawarerumono trotz dieser Einschränkungen viele Fans gewinnen konnte, kommt nicht von ungefähr. Die herausragende englische Lokalisierung von Atlus wird durchgehend von einer ebenso guten japanischen Sprachausgabe begleitet. Selbst Spieler, die keinerlei Japanisch-Kenntnisse besitzen, sollten die von den Sprechern angepeilten Emotionen wahrnehmen können. Wunderschöne Artworks und eine auffallend gute Hintergrundmusik unterstützen das Geschriebene weiter. Der eigentliche Star sind jedoch die Texte selbst: Die aufwändig detaillierten, aus der Ich-Perspektive verfassten Beschreibungen schaffen es immer wieder, eine sehr dichte Atmosphäre aufzubauen und den Spieler die Stimmung der gerade ablaufenden Szene deutlich spüren zu lassen. Die einzelnen Kapitel verbinden sich zu einem riesigen Handlungsbaum, der dutzende Akteure einführt und zahlreiche Handlungsstränge miteinander verwebt - ohne, dass sich der Spieler jemals darin verläuft oder den Überblick verliert.

Utawarerumonos größte Stärke ist aber gleichzeitig auch seine Achillesverse. Da das Spiel alles auf seine Story setzt wird es für diejenigen, die mit der Handlung nichts anfangen können, zum Totalausfall. Und wie sehr man sich für die Spielwelt und die in ihr lebenden Figuren erwärmen kann, ist natürlich äußerst subjektiv. Potentielle Käufer müssen sich in jedem Fall auf eine Dosis Japano-Humor einstellen, der mit einigem Fanservice angereichert ist - und auf weibliche Portraits mit zum Teil maßlos überdimensionierten Brüsten. Diese Aspekte wirken in Utawarerumono zwar weniger aufdringlich, als man es von japanischen Low-Budget-Produktionen schon fast gewohnt ist - doch wer sie überhaupt nicht verzeihen kann, wird es trotzdem schwer haben, sich mit dem Spiel anzufreunden. Die Dialoge sind oft eher belanglos und klar im Slice-of-Life-Genre angesiedelt. Sie leben von den sehr liebevoll geschriebenen Charakteren, aber wer unbedingt eine komplexe und verschlüsselte Handlung à la Bioshock Infinite braucht, liegt wohl leider außerhalb der von Aquaplus angepeilten Zielgruppe. Die Story ist zwar sehr facettenreich und komplex, aber trotz ihres Umfangs nicht unbedingt anspruchsvoll. Ein weiterer potentieller Reibunspunkt ist die männliche Hauptfigur, die zwar insgesamt gutherzig erscheint, aber zeitweise auch als fauler, egoistischer Säufer dargestellt wird. Da sich der Spieler mit dem Protagonisten identifizieren soll, dessen Verhalten aber in keinster Weise beeinflussen kann, wird sich nicht jeder in die Spielwelt hineinversetzt fühlen.

Für mich persönlich steht jedoch fest, dass die Stärken der Erzählung ihre potentiellen Kritikpunkte geradezu erdrücken. Das klare Highlight bilden aus meiner Sicht die zahlreichen Figuren, die zwar alle ihre charakterlichen Schwächen mitbringen, letztendlich aber trotzdem absolut liebenswert sind und über ausgeprägte, mehrschichtige Persönlichkeiten verfügen. Da es im Verlauf der Handlung nur sehr selten zu kämpferischen Auseinandersetzungen kommt, muss das Spiel nicht ständig den nächsten Konflikt herbeischreiben und hat somit viel Zeit, seine Charaktere in verschiedensten Alltagssituationen immer weiter aufzubauen. Ein Vergleich mit der Persona-Serie, die seit ihrem dritten Teil dem normalen Schulleben viel Zeit einräumt, ist durchaus angebracht - mit dem Unterschied, dass es in Utawarerumono eher um junge Erwachsene geht, die ihren Alltag in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt zubringen. Ein durchaus bemerkenswerter Punkt ist, dass die Story ohne einen großen Antagonisten auskommt und somit immer sehr offen und unvorhersehbar bleibt. Niemand wird lange Interpretationsversuche zu Utawarerumono verfassen; aber wenn der Protagonist eine über beide Ohren verknallte Kumpanin nach einer harten Abfuhr auf eine Kneipentour begleitet, sie in den frühen Morgenstunden nach Hause trägt und dabei beschreibt, wie sie ihre Augen gegen seinen Rücken drückt, woraufhin sein Shirt nass wird - dann kann eben auch eine einfache Liebesgeschichte mal sehr berührend und vereinnahmend sein.

Fazit:

Utawarerumono: Mask of Deception ist ein Spiel, bei dem mein subjektiver und mein objektiver Eindruck sehr weit auseinanderliegen. Durch die objektive, zynische Brille sehe ich ein Spiel, das sich als SRPG darstellt, letztendlich aber durch das viel zu anspruchslose Kampfsystem keinerlei taktische Tiefe bietet. Ein Spiel, in das viel ehrliche Arbeit hineingesteckt wurde, dessen Entwickler sich aber nicht völlig von japanischen Fanservice-Klischees lossagen konnten. Ein Spiel, das seine Handlung zwar mit tollen Artworks, professionell geschriebenen Texten und schöner Musik unterstützt, letztendlich aber selbst aus der Sicht von Visual-Novel-Fans zu wenige Interaktionsmöglichkeiten bieten und zu linear sein könnte. Und selbst wenn Utawarerumono sein Genre perfekt repräsentieren würde, hätte wohl fast niemand Lust dazu, eine Next-Gen-Konsole samt HD-Fernseher anzuwerfen, nur um dann zweidimensionale Artworks und scrollende Texte zu betrachten.

Doch obwohl ich mir all dieser Kritikpunkte durchaus bewusst bin, kann ich ohne Übertreibung sagen, dass Utawarerumono selbst im Ausnahme-Jahr 2017 noch zu meinen absoluten Spiele-Highlights zählt, das sich nicht vor Yakuza Zero oder Persona 5 verstecken muss. Die wunderschöne Spielwelt und die unglaublich liebenswerten Charaktere haben mich ein ums andere Mal voll vereinnahmt. Aquaplus kann witzige, spannende, berührende und manchmal auch sehr düstere Szenen herausragend gut umsetzen und schafft es immer wieder, den Spieler die angepeilten Emotionen mitfühlen zu lassen. Da der Titel für eine Visual Novel extrem umfangreich ist, haben die Autoren mehr als genug Zeit dazu, eine tiefe Verbindung zwischen dem Spieler und den virtuellen Figuren aufzubauen. Wer diese positiven Aspekte aus anderen japanischen RPGs wiedererkennt, dem kann ich Utawarerumono nur allerwärmstens ans Herz legen. Dem eingangs erwähnten NplusX-Leser muss ich aber leider widersprechen: Utawarerumono hätte es definitiv nicht verdient, als Film zu enden. Selbst eine lange Anime-Serie hätte wohl ihre liebe Mühe damit, alle Aspekte der vielschichtigen Story innerhalb ihrer Laufzeit wiederzugeben. Trotzdem bedanke ich mich sehr herzlich für den Tipp.

Unsere Wertung:
9.0
Andreas Held meint: "Fans der Nische, in der sich Utawarerumono platziert, sollten der Visual Novel unbedingt eine Chance geben."
Utawarerumono: Mask of Deception erscheint für PlayStation 4. Wir haben die Version für PlayStation 4 getestet.
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2 Kommentare:
Denios)
Denios
Am 17.02.2018 um 17:25
klingt ja gar nicht mal so schlecht^^ würd das auch ganz gerne mal versuchen, aber ich hab noch so viel auf dem Schirm... eine portable Version käme mir da gelegen... jetzt will ich ne Utawarerumono-Collection für Switch :(
Gast)
Gast
Am 18.02.2018 um 02:51
schau dir vielleicht die erste und zweite Animestaffel zu Utawarerumono an. Kann ich jedem empfehlen, der das Spiel kaufen möchte oder zumindest daran interessiert ist.
michi1894)
michi1894
Am 18.02.2018 um 09:01
Ich bräuchte deutsche Untertitel. Kann zwar ganz gut englisch aber mir ist das zu anstrengend. Interessant klingt der Titel auf alle Fälle.