Test

Lost Sphear

Von Deniz Üresin am 15.02.2018

Die Macht der Erinnerungen

Die Geschichte von Lost Sphear beginnt wie in jedem guten JRPG in einem idyllischen Dorf, genauer gesagt im Haus unseres Helden Kanata, der gerade aus einem merkwürdigen Traum erwacht. Zusammen mit seinen Jugendfreunden Lumina und Locke begibt er sich in den nahegelegenen Wald, um Fische für das Mittagessen zu fangen. Auf dem Rückweg können die drei Freunde ihren Augen kaum trauen: Ihr Heimatdorf Elgarth ist verschwunden, aufgelöst in einem mysteriösen weißen Nebel! Wie praktisch, dass Kanata just in diesem Augenblick entdeckt, dass er die Macht hat, Erinnerungen an verschwundene Orte, Objekte und Menschen zu sammeln und diese damit zurückzubringen. Mit seiner neu entdeckten Kraft brechen Kanata und seine Freunde nun auf, die Welt davor zu bewahren, komplett zu verschwinden. Auf ihrer langen und beschwerlichen Reise verdichten sich nach und nach die Hinweise darauf, dass der Mond mit der ganzen Sache etwas zu tun haben könnte…

Die Story von Lost Sphear ist, gelinde gesagt, in allen Belangen durchschnittlich. Die Welt soll erneut klischeehaft mit der Macht der Freundschaft gerettet werden und auch wenn es wie im Genre üblich die eine oder andere Wendung gibt, wirklich aufregend ist das alles zu keinem Zeitpunkt. Die 08/15-Heldentruppe, bestehend aus dem perfekten Gutmenschen, einem Grufti der Mache „harte Schale, weicher Kern“, einem so mechanisch wie möglich sprechenden Androiden und vieler weiterer schon in tausend anderen Abenteuern gesehenen Archetypen. Kein Charakter kann wirklich überzeugen, keine Storywendung wirklich zum Mitfiebern anregen. Viel schlimmer noch: Wer mit klassischen japanischen Rollenspielen einigermaßen vertraut ist, wird konstant denken: „Hä? Das kenne ich doch irgendwoher!“

Eine Reise durch die JRPG-Geschichte

Das liegt daran, dass man nicht nur das Gameplay an alte Klassiker wie Chrono Trigger angelehnt hat, sondern alles andere auch. Viele der Mechaniken und Handlungsstränge aus Lost Sphear wurden quasi direkt aus diversen SNES- und PS1-JRPGs übernommen. So gibt es den z.B. aus der Dragon-Quest-Reihe bekannten Party Chat, bei dem ihr per Knopfdruck jederzeit außerhalb von Kämpfen und Cutscenes kurze Meinungen und Gedanken eurer Partymitglieder mitgeteilt bekommt. Diese dienen hier aber vor allem als Gedächtnisstütze dafür, was die nächste Aufgabe ist und tragen deutlich weniger zur Atmosphäre und Persönlichkeit eurer Helden bei als bei Dragon Quest. Außerdem bekommt ihr relativ früh im Spiel sogenannte Vulcosuits. Das sind große, mechanische Kampfanzüge, die wie die Magitek-Rüstungen aus Final Fantasy VI oder die Gears aus Xenogears funktionieren und in Kämpfen diverse Vorteile, aber auch Restriktionen mit sich bringen. Habt ihr beispielsweise Final Fantasy IV oder Chrono Trigger gespielt? Dann werdet ihr große Teile der Story wiedererkennen.

Das Kampfsystem, welches ebenfalls stark an das von Chrono Trigger und diverser Final Fantasys angelehnt ist, hat aber tatsächlich einen eigenen Twist: Es ist quasi eine Erweiterung des altbekannten ATBS (Active Time Battle System), bei dem jeder Kämpfer, auch die Feinde, eine eigene Aktionsleiste hat, die sich mit der Zeit auffüllt. Erst wenn sie voll ist, kann der entsprechende Charakter einen Zug machen und einen Angriff oder Skill ausführen oder ein Item verwenden. Wie schnell sich die Leiste füllt, hängt vom Geschwindigkeitswert der Figur ab und kann durch entsprechende Buffs oder Debuffs beeinflusst werden. Neu ist bei Lost Sphear jedoch, dass man nicht nur eine Aktion ausführen, sondern vorher auch die Position des Charakters festlegen kann. Diese Stellungsspielchen haben vor allem bei einigen Bosskämpfen großen Einfluss auf den Ausgang des Kampfes, da diese oft in bestimmten Mustern angreifen und man durch geschickte Positionierung von einigen verheerenden Angriffen nicht getroffen wird. Auch die effektive Fläche, die eine Aktion einnimmt, will in die Taktik miteinbezogen werden: So wirken Buff-Zauber oft nur auf alle Kollegen innerhalb eines gewissen Radius und Fernkämpfer können mehrere hintereinander aufgereihte Gegner mit einer einzigen Attacke treffen. Das gut gelungene Kampfsystem ist tatsächlich einer der größten Pluspunkte des Spiels und motiviert deutlich mehr zum Weiterzocken als es die Story oder die Charaktere tun.

Am I Setsuna?

Natürlich muss Lost Sphear Vergleiche mit der älteren Schwester I am Setsuna über sich ergehen lassen. Mit diesem Projekt, das eher an ein Indie-Spiel als einen von SquareEnix veröffentlichten Triple-A-Titel erinnert, nahm 2016 alles seinen Lauf. Während I am Setsuna eine dramatische Handlung mit viel Atmosphäre und wunderschön komponierter Pianomusik präsentierte, krankte das Spiel an einigen groben Gameplayschnitzern. Es gab keine in JRPGs üblichen Inns (Gasthäuser), in denen ihr eure Party gegen eine Bezahlung übernachten und somit vollständig heilen lassen konntet, keine verwendbaren Items, keine Karte, keinen Partychat… Viele schon zu PS1-Zeiten selbstverständliche Gameplayelemente fehlten einfach komplett. Lost Sphear hat zwar ebenfalls einen toll komponierten Soundtrack vorzuweisen, allerdings halten sich die Stücke dieses Mal viel mehr im Hintergrund auf und lassen einen weniger starken Bezug zu den Örtlichkeiten, Geschehnissen und generell den zu vermittelnden Emotionen spüren. Grafisch bewegen sich die beiden Werke der Tokyo RPG Factory etwa auf demselben Niveau, die Engine ist dieselbe. Ein sehr großer Teil der Gegnermodelle und auch einige NPCs wurden sogar direkt aus dem Vorgänger übernommen. Klar die Nase vorn hat Lost Sphear aber wenigstens beim Gameplay. Es gibt endlich Inns, verwendbare Items, eine Weltkarte. Eben alle Dinge, die man gefühlt seit 1997 für selbstverständlich in einem JRPG hält. Das komplexere Kampfsystem erfordert besonders bei einigen der härteren Bossen einen kühlen Kopf und eine gut ausgearbeitete Strategie, bei der sowohl Positionierung als auch Einsatz von Items, Vulcosuits und Skills gut überlegt sein wollen. 

Skills werden in Lost Sphear ähnlich wie die Waffe oder die Rüstung (die übrigens bei einem Schmied im Austausch gegen farbige Edelsteine aufgewertet werden können) ausgerüstet und können dann im Kampf bei ausreichender Magiepunktzahl angewendet werden, wobei jeder Skill einen Cooldown von einer oder mehreren Runden hat. Hergestellt werden die Skills mithilfe von im Spiel gefundenen Erinnerungen, die dadurch quasi zu Materialien verkommen, mit denen ihr entweder verlorengegangene Ortschaften und Leute zurückbringen, oder eben Skills produzieren könnt. Mehr taktische Tiefe kommt durch Zusatzeffekte ins Spiel, die ihr auf Skills draufcraften könnt und die mit dem Setsunamodus aktiviert werden. Die Setsunaleiste füllt sich neben der ATB-Leiste während des Kampfes auf und generiert einen Punkt, wenn sie voll ist. Bis zu drei dieser Punkte können eure Charaktere gleichzeitig horten und beim rechtzeitigen Drücken der Y-Taste während eines Angriffs oder Skills verbraucht werden, um den Schaden zu erhöhen und eventuell ausgerüstete Zusatzeffekte auszulösen. Passiv können die Kämpfe und andere Mechaniken des Spiels von euch übrigens auch noch durch sogenannte Artefakte beeinflusst werden: Stellt ihr Teile der verloren gegangenen Landschaft wieder her, habt ihr an einigen Orten die Möglichkeit, ein Artefakt aufzustellen. Diese Artefakte haben diverse Eigenschaften und können sich als überaus nützlich erweisen. Eines aktiviert zum Beispiel eure Weltkarte, ein anderes heilt eure Party, wenn ihr einen Speicherpunkt berührt, wiederum andere stärken bestimmte Angriffe, erhöhen gewisse Trefferwahrscheinlichkeiten oder wirken anders auf die Kämpfe ein.

Das Gameplay von Lost Sphear ist somit klar eine (zumindest kleine) Verbesserung im Vergleich mit I am Setsuna. Dafür büßt es durch seine Identitätskrise und seinen 08/15-Cast ein ganzes Stück „Seele“ ein. 

Fazit:

Lost Sphear ist von Anfang bis Ende ein lineares Standard-JRPG, wie es im Buche steht. Ihr begleitet eine illustre Heldentruppe auf ihrer Reise zur Weltenrettung. Auf dem Weg besucht ihr viele Dörfer und Städte, sprecht mit den Bewohnern, helft ihnen bei ihren Problemen, bei denen nicht selten ein Standarddungeon mit einem fulminanten Bosskampf involviert ist, um den weiteren Weg freizubekommen. Optionale Sidequests und andere Nebentätigkeiten sind rar gesät, da die Sidequests erst alle gegen Ende des Spiels verfügbar werden und man abseits der Handlung sonst nicht viel tun kann. Ebenfalls gegen Ende des Spiels öffnet immerhin ein optionaler Dungeon seine Pforten, der zwar nur aus zufälligen Fragmenten bereits besuchter Orte besteht, aber starke Gegner und exklusiven Loot beherbergt. Der dreiste Ideenklau von vielen anderen SquareEnix-RPGs wie der Final-Fantasy-Reihe trübt zusammen mit den nicht sonderlich interessanten Charakteren etwas den Spielspaß, aber das Gameplay ist grundsolide. Die Vor- und Nachteile gegenüber dem geistigen Vorgänger I am Setsuna halten sich damit ungefähr die Waage. Besonders JRPG-Neulinge können mit einem unkomplizierten Vertreter wie Lost Sphear im Genre Fuß fassen, auch wenn die teils heftigen Bosskämpfe dann vorzugsweise auf Leicht (der Schwierigkeitsgrad ist jederzeit änderbar) gespielt werden sollten. Alte Hasen können ein wenig in Nostalgie schwenken und ansonsten ein gutes, aber nicht überragendes Rollenspiel genießen.  

Unsere Wertung:
7.0
Deniz Üresin meint: "Lost Sphear hat ein tolles Kampfsystem, ist in allen anderen Belangen aber ein durchschnittliches JRPG ohne große Überraschungen."
Lost Sphear erscheint für PC und PlayStation 4 und Nintendo Switch. Wir haben die Version für Nintendo Switch getestet.
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2 Kommentare:
JoWe)
JoWe
Am 15.02.2018 um 10:27
Sehr schöner ausführlicher Test! Schade, dass wohl die Verbesserungen im Vergleich zu "I am Setsuna" durch einige Verschlechterungen der Atmosphäre/Story/Charakter wieder negiert werden ...
Tobsen)
Tobsen
Am 15.02.2018 um 10:38
Jo, das ist echt richtig blöd. Sphear ist das bessere Spiel, Setsuna das bessere Erlebnis. Gottchen, ey. Evtl. wird dann ein etwaiger dritter Titel von TRPGF beides vereinen können.
Falcon)
Falcon
Am 15.02.2018 um 10:38
Danke für den Test! Wird geholt, wenn es günstiger zu haben ist.