
Lost Records: Bloom and Rage
Update (16. April 2025): Inzwischen ist die zweite Episode von Lost Records erhältlich. Wir haben unser Review vom 18.02. entsprechend angepasst. Außerdem haben wir uns bemüht, den Text möglichst spoilerfrei zu halten.
Was sieht aus wie Life is Strange, spielt sich wie Life is Strange und kommt von den Machern von Life is Strange, ist aber nicht Life is Strange?
Lost Records ist ein Abenteuerspiel unterteilt in zwei Episoden (hier „Kassetten“ genannt) mit den Titeln "Bloom" (Zu Deutsch: Blüte) und "Rage" (Zorn oder Raserei). Auf der Webseite zum Spiel wird das Ganze als "eine neue erzählerische Reise von den Machern von Life is Strange" beworben, dabei waren weder Don’t Nod Paris (Life is Strange 1 und LiS 2) noch Deck Nine (Before the Storm, True Colors, Double Exposure) an der Entwicklung beteiligt. Lost Records stammt vom erst 2020 gegründeten Studio Don’t Nod Montreal, dort sitzen aber inzwischen durchaus etliche Entwickler, die am allersten Teil von Life is Strange mitgewirkt haben. Ist deren Einfluss spürbar? Mit Verlaub: Ja! Lost Records hätte auch einfach Life is Strange: Bloom and Rage heißen können. Während andere Adventure-Spiele auf flottes Gameplay oder Erkundung setzen, stehen hier zwischenmenschliche Beziehungen und eine tiefgründige, emotionale Story im Vordergrund. Auch die stilisierte, semi-realistische Optik erinnert an Life is Strange.
Damals und heute
Die Story von Lost Records springt zwischen zwei Zeitebenen hin und her. Im Jahr 2022 kommt die 43-jähige Swann Holloway nach Ewigkeiten zum ersten Mal wieder nach Velvet Cove, Michigan, wo sie mit ihrer Familie aufgewachsen ist. Sie hat eine Nachricht von ihrer früheren Freundin Autumn bekommen und soll sie in einer Bar treffen. Das klingt zunächst nicht außergewöhnlich, tatsächlich haben beide nach einem mysteriösen Ereignis vor 27 Jahren jedoch geschworen, nie wieder nach Velvet Cove zu kommen. Höchst mysteriöse Umstände werden angedeutet. Und wieso möchte sich Autumn gerade jetzt unbedingt mit Swann treffen? Verschiedene Gegenstände und Gespräche in der Bar wecken in Swann Erinnerungen, die uns in das Jahr 1995 zurückversetzen.
Im damaligen Sommer ist Swann Holloway noch eine kleine, pummelige 16-Jährige, die sich schwertut, Freunde zu finden. In Ermangelung sozialer Kontakte verbringt sie Zeit mit ihrer Mutter und beschäftigt sich vor allem mit ihrem Kater, den sie gerne mit ihrer Videokamera filmt. Swann lebt mit ihren Eltern zwar noch im verschlafenen Städtchen Velvet Cove, steht allerdings kurz vor einem Umzug nach Kanada. Bevor sie umziehen kann, muss sie noch ein paar Dinge erledigen. Dazu zählt unter anderem, einen ausgeliehenen Film bei der örtlichen Videothek abzugeben. Neben dem Laden entdeckt Swann dabei einen roten Luftballon, der sich im Maschendrahtzaun verhangen hat. Der Anblick lässt sie gleich ihre Kamera zücken, was schnell die schnippische Dylan und ihren überheblichen Freund Corey auf den Plan ruft. Die aufreizend gekleidete Dylan meint, Swann hätte sie heimlich gefilmt und attackiert die Jugendliche deshalb. Sie nennt Swann eine "perverse Lesbe". Zum Glück eilen Swann gleich drei andere Mädels zu Hilfe: Nora und Autumn arbeiten in einem Eiswagen gleich neben der Videothek, während es sich bei Kat um Dylans jüngere Schwester handelt. Letztere sieht aus, als komme sie direkt aus der Grundschule, ist aber ebenfalls schon 16 Jahre alt.
Kat hält Dylan für eine unsympathische Schlampe und bringt dies auch genau so deutlich zum Ausdruck. Die Situation endet damit, dass Corey Autumns Schlüsselbund klaut und wütend über den Zaun wirft, ehe er und Dylan auf seinem Motorrad davondüsen. Den anderen Mädels bleibt daraufhin nichts anderes übrig, als den Rest des Abends frustriert mit der Suche nach dem Schlüssel zu verbringen, dabei lernen sie sich aber näher kennen und werden schließlich zu Freundinnen, die letztlich die Punk-Band Bloom and Rage gründen.
Mehr Entspannung als Spannung
Lost Records lässt sich viel Zeit, um die Beziehungen zwischen Swann und den anderen Mädchen zu behandeln. Genau wie Life is Strange, ist Lost Records ein Spiel, das entschleunigt. Als Spieler werden wir in den Schuhen von Swann explizit aufgefordert, uns jede Umgebung genau anzuschauen und uns ausgiebig mit den verschiedenen Charakteren zu beschäftigen. Handfestes Gameplay gibt es nicht, aber durch die Art und Weise wie wir als Swann die Dialoge im Spiel gestalten, stärken oder schwächen wir unsere jeweilige Bindung zu Autumn, Nora und Kat.
So wie Max Caulfield im ersten Teil von Life is Strange ständig Fotos schießt, ist Swann außerdem immer mit ihrer Videokamera unterwegs, um alles und jeden (aber vor allem natürlich ihre Freundinnen) in Velvet Cove zu filmen.
Wer sich darauf einlässt, kann in der Welt von Lost Records richtig versinken. Zum einen, weil die Mädels viel Persönlichkeit haben, aber auch, weil das Spiel nur so vor kleinen Details strotzt. Kinder der 90er Jahren werden Unmengen Gegenstände wiedererkennen und sich schnell nostalgisch fühlen. Die Videothek bewirbt etwa die brandneuen Filme "Dumm und Dümmer" und "Pulp Fiction", in Swanns Zimmer liegen ein Tamagotchi und Troll-Figuren, und in der Garage, die von Nora und Autumn für Bandproben verwendet wird, ist ein (Fake-)SNES neben unzähligen VHS-Kassetten, Snacks, Spielen und anderen Dingen zu finden. Viele dieser Gegenstände sind für die Story keineswegs relevant, können aber trotzdem aufgehoben und untersucht werden. Das ist cool, bremst aber genau wie das viele Filmen unterschiedlicher Lokalitäten und das ständige Wechseln in die Gegenwart das Tempo des Spiels aus. Während vor allem der erste Teil von Life is Strange einer emotionalen Achterbahnfahrt gleicht, ist Lost Records über Stunden hinweg eher eine emotionale Floßfahrt auf einem gemütlich dahinplätschernden Bach. Das soll nicht heißen, dass Lost Records langweilig ist, aber wenn Swann und Autumn nach vier Stunden Spielzeit und etlichen Drinks in der Bar noch immer in trivialen Erinnerungen schwelgen, statt sich mit dem eigentlichen, vermeintlich wichtigen Grund für ihr Treffen zu befassen, kann sich das Ganze schon etwas zäh und in die Länge gezogen anfühlen.
Erst nach etwa vier der rund fünf Stunden Spielzeit (oder mehr, wenn ihr mit der Kamera wirklich jede Szene einfangen wollt) wird die Story interessanter und mit einem paranormalen Einschlag sogar etwas unheimlich. Kurz darauf endet "Bloom" nach einer weiteren Storywendung jedoch einfach und verweist auf die zweite Episode, die beginnt aber mitnichten so spannend wie erhofft. Statt sich mit den übernatürlichen Ereignissen zu befassen, lässt uns "Rage" als Swann erst einmal Sachen für den Umzug packen und dann vor einer Bar beim Putzen helfen. Die Entwickler drosseln das Tempo des Spiels außerdem noch zusätzlich, indem wir an ausgewählten Orten wieder einige scheinbar willkürlich gewählte Dinge filmen müssen, ehe die Story weitergehen darf.
Letztere wird im Laufe der letzten Stunde deutlich abstruser, erreicht aber nie auch nur annähernd die erzählerischen und emotionalen Höhen früherer Life is Strange-Teile. Das Ende im Jahr 1995 ist völlig an den Haaren herbeigezogen, zumal das Spiel verzweifelt versucht, Corey als bösen Antagonisten darzustellen. Der ist zwar ein ziemlicher Arsch, aber viele Rachetaten der Mädels sind objektiv deutlich fieser als seine. Etliche Fragen bleiben während dem 2. Teil zudem einfach unbeantwortet. Immerhin ist das Ende in der Gegenwart bittersüß und tröstet damit ein wenig über den restlichen Unsinn hinweg.
Licht und Schatten
Unabhängig von der Story wirken manche Dialoge etwas unnatürlich. Der erste Teil von Life is Strange wurde trotz seiner offensichtlichen Stärken für seine überzogene Jugendsprache kritisiert. Das ist hier nicht der Fall, aber Swann und ihre Freundinnen benehmen sich nicht immer ihrem Alter entsprechend. Hin und wieder erscheinen sie wie Kindergartenkinder, die völlig alltäglichen Ereignissen mit übertriebener Freude begegnen.
Schade ist auch, dass wir als Spieler nur geringen Einfluss auf die Story nehmen dürfen. So können wir etwa die Farbe unserer Katze bestimmen oder andere unwichtige Details ändern, nicht aber den Verlauf der übergeordneten Geschichte beeinflussen.
Technisch zeigt sich Lost Records ähnlich durchwachsen. Die detaillierten Innenräume haben wir an anderer Stelle bereits gelobt, und auch die Charaktermodelle sind sehr schön ausgearbeitet. Die Grafikengine eignet sich aber eindeutig weniger für die Darstellung natürlicher Elemente wie Gras oder das Blattwerk von Bäumen und Büschen und kommt bei schnellen Szenenwechseln nicht mit dem Laden der Texturen hinterher - angesichts der stilisierten Optik doch verwunderlich. Speziell in den Außengebieten flimmern Swanns Haare komisch, wenn eine Tiefenunschärfe im Hintergrund erzeugt wird. Stellenweise kann zudem die Mimik der Mädchen irritieren, weil Mund- und Augenbewegungen nicht oder nur teilweise zur englischen Sprachausgabe (mit deutschen Untertiteln) passen. Das hat Deck Nine in Life is Strange: True Colors und Double Exposure zuletzt deutlich besser hinbekommen. Apropos Sprachausgabe: Die ist zwar größtenteils gelungen, aber die Synchronsprecherinnen sind wohl keine guten Sängerinnen, wodurch so manche Band-Szene mit Gesang zum Fremdschämen ist - das kann aber auch durchaus Absicht sein.
Fazit:
Wieso sich Don't Nod für eine zweiteilige Veröffentlichungspolitik entschieden hat, kann ich nicht nachvollziehen. Nach dem ersten Teil war ich noch voller Hoffnung. Ich dachte die besten Szenen würden erst noch kommen, dem war aber nicht so. "Bloom" dient dazu, die verschiedenen Charaktere mehr als ausführlich vorzustellen. Dementsprechend lebt diese Episode fast vollkommen von den vielen Dialogen und den Interaktionen zwischen Swann, Autumn, Nora und Kat. Das hat aber eben auch zur Folge, dass Spieler, die mit deren Teenie-Romanze nichts anfangen können, sich schnell langweilen könnten. Die zweite (und mit etwa drei Stunden deutlich kürzere) Episode "Rage" kann sich eigentlich auf die übernatürlichen Elemente der Mystery-Geschichte konzentrieren, tut dies aber nur zum Teil und auf eine zunehmend trashige Art und Weise, die dem ernsten Unterton des Spiels nicht immer gerecht wird. Manche Fragen werden zudem ignoriert oder mit halbgaren Erklärungsversuchen abgehakt. Ein bittersüßes, melancholisches Ende tröstet über so manch unsinnige Szene hinweg, aber Don’t Nod lässt ohne jeden Zweifel viel Potential liegen.
