Guitar Hero Live
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie mir im Spätsommer 2005 auf IGN ein Artikel zu Guitar Hero begegnete. Als Musikspiel-Fan und Fan von Rockmusik bekam ich angesichts der Bilder des Gitarren-Controllers gleich feuchte Augen, bis ich mir kurz darauf dachte: „Meh, das erscheint ohnehin niemals in Europa“. Doch statt aufzugeben, nahm ich Kontakt zum Importhändler meines Vertrauens auf, der mir mit einigen Wochen Verzögerung eine der sperrigen Boxen vom westlichen Kontinent besorgen konnte. Gute sieben Jahre später musste Harmonix das Musikspiel-Genre wieder zu Grabe tragen: Mit American Pie erschien der letzte Add-On-Song für Rock Band 3, das zwischenzeitlich von Activision gekaufte Guitar Hero war ohnehin schon vom Markt verschwunden. Doch nun kamen Harmonix und Activision ziemlich zeitgleich auf die Idee, den Serien eine zweite Chance zu geben – im Oktober letzten Jahres erschienen somit sowohl Rock Band 4 als auch Guitar Hero Live für die aktuellen Heimkonsolen. Da Rock Band auf Wii kaum Beachtung fand, konzentrierte sich Harmonix diesmal auf Sony und Microsoft – Activision bediente alle Plattformen.
Neue Gitarre, neue Spielmodi
Während sich Harmonix mit Rock Band 4 auf „more of the same“ konzentrierte und eine für Konsolen nie dagewesene Abwärtskompatibilität zum zentralen Feature machte, bekam Freestyle Games (die schon DJ Hero entwickelt hatten) von Activision die Aufgabe, das Genre neu zu erfinden. Geboren war eine neue Gitarre, die nun statt fünf Knöpfen in einer Reihe zwei Reihen mit jeweils drei Knöpfen bietet. Plastikgitarren-Veteranen müssen sich daher ordentlich umgewöhnen, haben im Vergleich zu Neulingen aber einen klaren Startvorteil. Durch die Neuanordnung der Knöpfe sind Akkorde nun potentiell deutlich anspruchsvoller zu spielen, während Gitarrensolos leicht an Reiz verlieren. Das spiegelt sich auch in der Setliste wider: Es ist schon bezeichnend, wenn ein Spiel „Guitar Hero“ heißt und eines der besten Gitarrensolos der gesamten Setliste in einem Song von Rihanna zu finden ist, während man gleichzeitig Stücke von Eminem oder Skrillex vorgesetzt bekommt.
Zwar bietet euch Guitar Hero Live immer noch eine On-Disc-Setliste, doch diese ist mit ihren gerade mal 40 Songs eher Beiwerk zu dem Spielmodus, in dem ihr mehr als 90% der Spielzeit verbringen werdet. In Guitar Hero TV stehen euch zwei Musiksender zur Auswahl, auf denen kontinuierlich Musik gestreamt wird, die ihr dann mitspielen könnt. Auf Kanal 2 findet ihr dabei hauptsächlich moderne Pop-Nummern und Indie Rock, auf Kanal 1 neben vereinzelten Rock-Klassikern auch viel Krawall-Metal von Bands wie Disturbed oder Bullet for My Valentine. Beide Kanäle legen dabei einen enormen Fokus auf moderne Musik, und selbst von alteingesessenen Bands werden euch in erster Linie Lieder geboten, die nach 2010 erschienen sind – was zumindest bei ZZ Top katastrophale Folgen hat.
Wählt ihr euch in einen Kanal ein, müsst ihr die Lieder spielen, die euch vorgesetzt werden. Wenn euch dann ein Song von One Direction, Bruno Mars oder gar George Ezra vorgesetzt wird, habt ihr eben Pech gehabt. Um das zu verhindern, könnt ihr gegen eine Premium-Währung auch gezielt bestimmte Songs spielen. Perlentaucher können in der Setliste von Guitar Hero Live definitiv fündig werden und echte Highlights ausmachen – z.B. Dream Theaters „Through the Looking Glass“ oder einige Judas-Priest-Klassiker, die von British Steel stammen. Die fairste Bezahl-Option erlaubt es euch, gegen einen kleines Entgeld 24 Stunden lang vollen Zugriff auf die Musikbibliothek zu erhalten. Diese Option richtet sich sehr gezielt an Spieler, die Guitar Hero seltener als ein Mal im Monat spielen, wenn gerade ein paar Freunde zu Besuch sind. Und es ist unübersehbar, dass sich Freestyle Games bei der Entwicklung des Spiels voll auf diese Zielgruppe konzentriert hat.
Wenig für Vielspieler
Der Aspekt, der erfahrenen Musikspielern am sauersten aufstoßen wird, sind die nur sehr rudimentären Funktionen zur Lag-Kalibrierung. Während ihr in Rock Band 4 den Audio- und Video-Lag fast millisekundengenau einstellen könnt, stellt euch Guitar Hero Live nur einen sehr ungenauen Slider zur Video-Kalibrierung zur Verfügung. Somit ist es nicht oder nur mit Glück möglich, Bild und Ton genau zu synchronisieren, was sich vor allem auf den höheren Schwierigkeitsgraden durchgehend bemerkbar macht. Außerdem werden eure Punktzahlen nur serverseitig gespeichert; Score-Tracking-Features fehlen völlig. Zum Vergleich: In Rock Band 4 könnt ihr euch auf Knopfdruck alle Lieder anzeigen lassen, in denen ihr noch nicht fünf Sterne erreicht oder 100% der Noten getroffen habt. Und auch die Verarbeitung der Gitarre lässt zu wünschen übrig: Bereits nach einigen Stunden auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad begannen die Knöpfe am Gitarrenhals, laut zu quietschen.
Gelegenheitsspielern wird mit Guitar Hero TV hingegen ein deutlich faireres Modell geboten. Wer sich in Rock Band eine umfangreiche Bibliothek aufbauen wollte, musste dafür im Schnitt über einen Euro pro Song zahlen – im Vergleich dazu geht Guitar Hero TV deutlich weniger ins Geld, da ihr zwar immer wieder Geld einwerfen müsst, dafür aber auch alle Songs auf einen Schlag bekommt. Für Leute, die nur ein paar Mal im Jahr spielen, ist dies auf Dauer deutlich günstiger. Einen großen Nachteil, von dem beide Spielergruppen betroffen sind, hat das Modell jedoch: Sobald sich Activision dazu entscheidet, die Server abzuschalten, verschwindet der Guitar Hero TV-Modus aus dem Spiel.
Fazit:
Freestyle Games und Activision haben ihr Franchise-Reboot für Guitar Hero voll auf Gelegenheitsspieler ausgerichtet. Genre-Veteranen dürfen sich zwar darüber freuen, dass sie die neue Gitarre vor eine unbekannte Herausforderung stellt, doch ansonsten lässt das Gesamtpaket viel vermissen: Umfangreiche Score-Tracking-Features und ein Übungsmodus fehlen komplett, und selbst einfache Features wie ein vollständiges Optionsmenü zur Lag-Kalibrierung wurden weggelassen, weil sie für die angepeilte Zielgruppe nicht wichtig sind. Selbiges spiegelt sich auch in der Song-Auswahl, die dem Publikum anstelle von Rock-Klassikern mit ausladenden Gitarrensolos hauptsächlich moderne Chartmusik vorsetzt – statt Lynnyrd Skynnyrd und Aerosmith stehen Avril Lavigne und Katy Perry auf der Setliste. Wer die Plastikgitarre hingegen nur ab und zu zur kurzweiligen Bespaßung nutzen möchte, freut sich vor allem über das neue Geschäftmodell, welches dem Geldbeutel letztendlich deutlich weniger zusetzt. Im Hinblick auf seine angepeilte Zielgruppe macht das Spiel nichts falsch. Wenn man Guitar Hero Live etwas ankreiden kann, dann also nur, dass es nicht alle Spielergruppen bedient. Wer sich herausfordern und verbessern möchte, sollte lieber zu Rock Band 4 greifen – oder gleich ein echtes Instrument erlernen.