Tokyo Mirage Sessions #FE
2016 ist das goldene Jahr der JRPGs. Durch Dragon Quest VII, Final Fantasy XV, Star Ocean IF oder Fire Emblem Fates war und ist der Release-Kalender prall gefüllt mit Hochkarätern aus den größten RPG-Franchises. Für Heimkonsolen-Fans hält Nintendo nun die lokalisierte Version des Atlus-RPGs Genei Ibun Roku #FE bereit, welches bereits 2015 in Japan erschien und nun unter dem Namen Tokyo Mirage Sessions #FE im Westen erscheint.
Das Spiel hat schon sehr viele
Namensänderungen hinter sich und wurde erstmals unter dem Arbeitstitel
Shin Megami Tensei X Fire Emblem angekündigt. Wir haben uns angesehen,
ob der Titel für Fans dieser Franchises interessant sein könnte,
und ob er sich gegen die namhafte Konkurrenz behaupten kann.
Tokyo Mirage Sessions: Ein eigenständiges Spiel
Hauptakteurin der Handlung von Tokyo Mirage Sessions ist die Schülerin Tsubasa Oribe, die gerne ein japanisches Pop-Sternchen werden möchte und zu Beginn der Handlung an einem Casting teilnimmt. Der Spieler übernimmt die Kontrolle über Itsuki Aoi, der Tsubasa durch ihre Lebensgeschichte begleitet und seelisch unterstützt. Bereits im Prolog des Spiels gelingt beiden gewissermaßen der Durchbruch, da das Duo von Fortuna Entertainment angeheuert wird - einem Riesen in der Entertainment-Branche, der schon mehrere Sänger und TV-Stars etablieren konnte. Die Agentur ist jedoch nur ein Deckmantel für eine Gruppe von Kämpfern, die gegen die Mirages kämpft - mysteriöse Gestalten, die Kontrolle über den Körper ihrer Opfer erlangen können und den Menschen ihre Lebensenergie rauben. Da stellt sich gleich die Frage: Was hat das nun mit Fire Emblem oder Shin Megami Tensei zu tun?
Die Antwort fällt ernüchternd aus: Gar nichts. Elemente aus den beiden bekannten Franchises tauchen nur an bestimmten Punkten auf, die klar vom Rest des Spiels abgeschottet sind. Jeder Akteur geht ein Bündnis mit einer Mirage ein, die sich bei Feindkontakt in eine Waffe verwandeln kann - und diese Mirages sind zufällig Charakteren aus der Fire Emblem-Serie nachempfunden. Ansonsten beschränken sich die Auftritte der mittelalterlichen Kämpfer auf kurze Fanservice-Dialoge an vorgegebenen Orten - sie haben auf die Haupthandlung keinen entscheidenden Einfluss. Aus Shin Megami Tensei wurden hingegen nur einige Eckpfeiler des Kampfsystems übernommen. Somit fühlt sich Tokyo Mirage Sessions an wie ein Persona-Titel, in dem die sonst üblichen Dämonen durch Charaktere aus Nintendos Strategieserie ausgetauscht wurden - und das wahrscheinlich nur, um ein paar Fire Emblem-Fans als zusätzliche Käufer anzuziehen, und nicht weil es das Spiel objektiv bereichert. Letztendlich scheinen die Produktverantwortlichen mit der krampfhaften Verwurstung beider Markennamen aber das Gegenteil erreicht zu haben: Viele Fans waren über die geringen Parallelen zu ihren Lieblingsserien enttäuscht und hätten lieber ein "echtes" Fire Emblem für die Wii U gehabt. Daraus resultierte ein sehr negatives Echo mit unzähligen Troll-Userwertungen, das dem Spiel letztendlich wohl mehr Schaden als Nutzen einbrachte.
Betrachtet man Tokyo Mirage Sessions in einem
Vakuum, bleibt ein RPG zurück, das durchaus auf eigenen Füßen stehen
kann. Die Handlung mit ihrem Fokus auf die aktuelle, reale Pop-Kultur
bietet eine erfrischende Abwechslung zu den üblichen Fantasy-RPGs. In
diesem Rahmen wird ein starker Fokus auf die persönliche Entwicklung der
Charaktere gelegt, die abseits von Ruhm und Reichtum immer noch mit
ihren eigenen, menschlichen Problemen zu kämpfen haben. In den sehr
zahlreichen Dialogen werden viele anrührende Geschichten erzählt, die
vermutlich ein zu positives Bild der in der Realität eher von Geld und
Zahlen regierten Entertainment-Branche zeichnen. Die Handlung bleibt
jedoch über weite Strecken auf Seifenopern-Niveau, während sich die
dargestellten Persönlichkeiten zu oft in überzeichneten Anime-Klischees
verrennen und Dialoge manchmal ins Kitschige abdriften. Dem herausragend
guten Persona 4, an dessen Spielaufbau sich Tokyo Mirage Sessions ganz
offensichtlich orientiert, kann das Gebotene nicht annähernd das Wasser
reichen - doch dank der größtenteils sympathischen und unterhaltsamen
Figuren muss man auch nicht von einem Fehlschlag sprechen.
Mildes Fastfood-Menü mit optionalem Chili-Dip
Die einzelnen Kapitel von Tokyo Mirage Sessions folgen in der Regel einem klar definierten Schema: Durch etwa 30 bis 60 Minuten lange Cutscenes und Dialoge wird die Hauptstory weitergesponnen, bis sich irgendwann unweigerlich der nächste Dungeon öffnet. Diese Verliese sind überraschend umfangreich und es werden einige Stunden vergehen, bis ihr den jeweiligen Endboss erreicht und besiegt habt. Auf dem Weg dorthin müsst ihr nicht nur zahlreiche Gegner bekämpfen, sondern auch ein paar kleinere Rätsel lösen. Ist dies vollbracht, könnt ihr euch vor dem Start des nächsten Kapitels frei in der Spielwelt bewegen und Nebenaufgaben erledigen. Besonderes Augenmerk solltet ihr dabei auf die Side Stories legen, in denen die Persönlichkeiten der wichtigsten Charaktere etwas vertieft werden. Darüber hinaus erhaltet ihr zahllose Mini-Quests von diversen NPCs, die sich spielerisch aber leider auf Sammel- und Suchaufgaben beschränken. Besonders langweilig sind Missionen, in denen ihr Gegner besiegen müsst, deren Erfahrungsstufe sich weit unter dem Level eurer Kämpfer befindet.
Die Auseinandersetzungen mit Feinden sind der einzige Aspekt, in dem sich Tokyo Mirage Sessions an Shin Megami Tensei orientiert. Den Kern des Kampfsystems bilden in dieser Serie die Schwachstellen und Resistenzen der einzelnen Gegner: Jedes Monster ist besonders anfällig gegen bestimmte Waffen oder bestimmte Elemente, und wenn ihr eine dieser Schwachstellen trefft, richtet ihr nicht nur mehr Schaden an, sondern könnt euch darüber hinaus einen starken taktischen Vorteil erarbeiten. Der Wii U-Titel ist in diesem Aspekt etwas simpler gestrickt, denn hier bildet das Treffen einer Schwachstelle lediglich den Startpunkt für eine mögliche Angriffskette, die vom Spiel automatisch optimiert und ausgeführt wird. Da es zudem nie notwendig ist, Magiepunkte zu konservieren, beschränkt sich die Interaktion in den meisten Kampfrunden darauf, diejenige Spezialfähigkeit, welche die längste Angriffskette starten wird, aus dem Menü zu wählen. Auch in vielen anderen Punkten wurde das Kampfsystem vereinfacht: Physische Spezialattacken kosten Magiepunkte statt (wie sonst in SMT üblich) Lebenspunkte, und die Instant-Death-Zauber Mudo und Hama sind genauso verschwunden wie die Möglichkeit, mit den Gegnern zu sprechen.
Wer es etwas herausfordernder mag kommt jedoch
ebenfalls auf seine Kosten, denn Tokyo Mirage Sessions lässt seine
Spieler bereits beim ersten Spielstart aus drei Schwierigkeitsgraden
wählen. Auf der schwierigsten Stufe zieht der Anforderungsgrad nach dem
ersten Drittel des Spiels angenehm an, und spätere Bosse stellen selbst
für erfahrene RPG-Veteranen eine ernstzunehmende Hürde dar. In den
Endkämpfen offenbart das vermeintlich simple Kampfsystem außerdem eine
Spieltiefe, die man ihm zu Beginn nicht zutrauen würde. Doch auch die
Vorbereitung ist wichtig: Im Hauptquartier könnt ihr immer neue Waffen
bilden, in die sich die Mirages im Kampf verwandeln können. Benutzt ihr
diese lang genug, erlernt ihr einen neuen Skill, der auch dann erhalten
bleibt, wenn ihr zu einer anderen Waffe wechselt. Wird ein Skill
mehrfach erlernt, verstärkt er sich in der Regel. Im weiteren Verlauf
kommen noch mehrere Möglichkeiten hinzu, mit denen ihr eure Kämpfer
ausbilden und spezialisieren könnt. Spielern, die solche Systeme mögen,
wird also einiges geboten - und wer lieber auf derartiges "Grinding"
verzichten und reibungsfrei die Story durchspielen möchte, kann einfach
auf einen der niedrigeren Schwierigkeitsgrade ausweichen.
Das Drama mit der Zensur
Offiziellen
Aussagen zufolge wurde Tokyo Mirage Sessions von Atlus lokalisiert.
Insiderkreise behaupten jedoch, dass der japanische Publisher dabei
unter strenger Aufsicht von Nintendo of America stand. Fakt ist
jedenfalls: Wie bereits im Fall von Xenoblade Chronicles X und Fire
Emblem Fates wurden bei der Lokalisierung zahlreiche Änderungen
vorgenommen, die weit über eine einfache Übersetzung hinausgehen. Alle
Outfits und Charakterdesigns, die nicht dem persönlichen Geschmack der
für die Lokalisierung zuständigen Mitarbeiter entsprachen, wurden
rigoros geändert, übermalt oder gar komplett ausgetauscht - selbst
innerhalb der oft sehr aufwändig gezeichneten Anime-Sequenzen. Vielen
Fans wäre es vermutlich lieber gewesen, wenn die Übersetzer das hierfür
verwendete Budget stattdessen in eine englische Synchronisation oder
deutsche Texte investiert hätten.
Extrem ärgerlich wird es, wenn diese Eingriffe Auswirkungen auf die Handlung haben. Im zweiten Kapitel des Spiels zum Beispiel hat Tsubasa panische Angst vor einem Foto-Shooting, das von ihrer Managerin arrangiert wurde. In der Version für den Westen geht es um harmlose Fotos für ein Mode-Magazin, und der Spieler kann Tsubasas Nervosität nicht nachvollziehen, da die Protagonistin zu diesem Zeitpunkt bereits auf mehreren Plakaten und in einem Musikvideo öffentlich zu sehen ist. Erst nach einer kurzen Recherche stellt sich heraus, dass Tsubasa im japanischen Originalskript als Gravure-Model arbeiten muss. Es ging also ursprünglich um Bikinifotos für ein Erotikheft, doch das Strandoutfit wurde im Zuge der Lokalisierung durch eine deutlich stoffreichere Straßenkleidung ersetzt. Diese Anpassung geht weit über den simplen Austausch eines Outfits hinaus, da als Seiteneffekt die psychische Belastung, der Tsubasa in diesem Kapitel ausgesetzt ist, verharmlost wird - und das ist ein ziemlicher Einschnitt in die Story.
Besonders zynisch wirkt in
diesem Zusammenhang die Aussage aus einem Nintendo Direct, dass man nur
deshalb auf eine englische Tonspur verzichtet habe, weil man Spielern
ein möglichst authentisches Spielerlebnis bieten wolle. Immerhin können
wir einräumen, dass die Lokalisierung an anderen Stellen näher am
Original geblieben ist, als man es vielleicht erwarten würde. Bestes
Beispiel hierfür sind die von dem japanischen Entertainment-Konzern Avex
produzierten Lieder, die im Mittelpunkt des Soundtracks stehen und
unverändert in die westliche Version übernommen wurden. Versierte
Spieler werden zudem einige Anspielungen auf bestimmte Nischen der
japanischen Popkultur erkennen können, in denen unter anderem Ladybeard
oder Hatsune Miku auf die Schippe genommen werden. Wer Tokyo Mirage
Sessions spielt, ohne sich vorher zu informieren, wird also
wahrscheinlich nicht bemerken, dass die lokalisierte Fassung vom
Original abweicht.
Fazit:
Wer Rollenspielen in irgendeiner Form etwas abgewinnen kann, wird sicherlich auch an Tokyo Mirage Sessions seine Freude haben. Die simple Handlung und die anspruchslosen Kämpfe richten sich vor allem an Spieler, die seichte Unterhaltung zum Entspannen suchen. Gleichzeitig versorgt Atlus mit den Side Stories und höheren Schwierigkeitsgraden aber auch Genre-Veteranen, die tiefer in das Universum und das Gameplay eintauchen möchten. Wer Interesse an dem Setting und der Thematik des Spiels hat, darf also gerne einen Blick riskieren - die sehr oberflächlich eingebauten Fire Emblem-Charaktere stellen hingegen selbst für Fans der Strategieserie keinen Kaufgrund dar. Zum Großen Wurf reicht es trotzdem nicht, denn auch in ihrer Bestform bleiben die Story und das Kampfsystem letztendlich klar hinter der zur Zeit sehr starken Konkurrenz zurück. Genrefans mit einem knappen Stundenplan werden also vermutlich keine Zeit für Tokyo Mirage Sessions haben: Auf dem 3DS und der PlayStation 4 werdet ihre zahlreiche Alternativen vorfinden, die ein besseres Kampfsystem oder eine bessere Story zu bieten haben und ungekürzt im Westen erschienen sind.
Wenn du auf dem 3DS oder anderen Systemen keine RPGs zockst und du es mal ausprobieren willst, dann würde ich Tokyo Mirage ne chance geben, gerade wegen FE
@Der R
Lass dich von den Wertungen nicht zu sehr beeinflussen. Auch Spiele mit durchschnittlichen Wertungen können Spaß machen.
Die Frage ist nur, ob es deinen Geschmack trifft.
Ende der Vorlesung: Sonico ist auf dem Weg zu ihrem Nebenjob. Heute ist sie Model für ein Magazin. Sonico posiert mit großem Einsatz, aber der Kunde möchte, dass Sie noch ein zweites Outfit anprobiert...