
Atomfall
Ich stelle mir vor, wie irgendwo in einem Pub einige Entwickler vom britischen Studio Rebellion (den Machern der Sniper Elite-Serie) mit Sheperd's Pie und ein paar Flaschen Ale zusammensitzen. Einer meint plötzlich: “Hey, es gab schon lange keinen neuen Fallout-Teil mehr.”
Die anderen nicken alle.
Der Entwickler fährt fort: “Wir könnten unser eigenes Fallout entwickeln.”
Wieder nicken alle.
“Fallout 3 spielt in Washington, Fallout: New Vegas offensichtlich in Las Vegas und Fallout 4 in Boston. Wie wäre es, wenn wir unser Fallout im Nordwesten von England stattfinden lassen?”
Wieder nicken alle.
Ich bin mir relativ sicher, dass die Idee zu Atomfall so oder so ähnlich entstanden ist. Zwar hat Ryan Greene, seines Zeichens Art-Director von Rebellion, in einem Interview erst kürzlich behauptet: "Sobald man das Spiel spielt, merkt man schnell, dass es kein Fallout ist.” Dieser Aussage müssen wir aber klar widersprechen. Atomfall ist in vielerlei Hinsicht ein Fallout-Klon. Das muss aber keinesfalls negativ sein. Wir haben das Spiel für euch getestet und verraten, ob es qualitativ mit Bethesdas postapokalyptischer Rollenspielserie mithalten kann. Cheers!
Keep calm and survive
Fast jeder weiß heutzutage von den nuklearen Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima. Diese schrecklichen Unfälle sind nicht nur Teil der Weltgeschichte, sondern auch unserer Pop-Kultur. Deutlich weniger Leute wissen dagegen, dass es im Oktober 1957 in einem britischen Kernreaktor in Windscale (heute Sellafield) zum größten nuklearen Unfall in der Geschichte Englands kam. Ein Brand in einem der zwei Türme des Kraftwerks setzte eine Wolke mit erheblichen Mengen radioaktiven Materials frei, die sich über Großbritannien und Teile des europäischen Festlands ausbreiteten. Atomfall greift eben dieses Ereignis auf und spinnt eine fiktive Sci-Fi-Geschichte um diesen wahren Kern herum.
Eine kurze und nur spärlich animierte Cut-Scene erzählt von dem Unfall in Windscale, ehe wir in den Schuhen eines namenlosen und stummen Charakters in irgendeinem Bunker aufwachen. Schnell finden wir heraus: Nach der Katastrophe hat sich eine Quarantänezone um den Reaktor gebildet. Wir sind in dieser Quarantänezone gefangen und müssen um unser Überleben kämpfen, wobei wir zu Beginn des Spiels praktisch ins kalte Wasser geworfen werden. Unser Protagonist leidet unter Amnesie und weiß daher nicht, was in Windscale passiert oder wie er/sie dort hingekommen ist. Ein verletzter Wissenschaftler in einem Strahlenanzug verrät allerdings, dass es in einer Forschungsanlage angeblich einen Weg aus der Quarantänezone gibt. Ein Unbekannter, der uns immer wieder telefonisch kontaktiert, schwafelt zudem von einem mysteriösen "Oberon", der sterben soll.
Weil die Forschungsanlage in einem von Selbstschussanlagen und Soldaten bewachten Sperrgebiet liegt und wir keine Ahnung haben, wer oder was Oberon ist, bietet es sich an, dass wir uns zunächst mit diversen kleineren Missionen beschäftigen und uns dabei mit der Welt von Atomfall vertraut machen. Letztere ist nicht ganz so riesig groß wie die von Fallout und außerdem in mehrere kleinere, miteinander verbundene Gebiete, wie etwa in The Outer Worlds oder Avowed, unterteilt.
Unabhängig davon ist es schön, dass uns Atomfall nicht bei der Hand führt. Ohne konkretes Ziel vor Augen schreien die verschiedenen Bereiche der Quarantänezone gleich zu Beginn des Spiels förmlich danach, erkundet zu werden, schließlich brauchen wir so schnell wie möglich überlebenswichtige Waffen, Nahrungsmittel und Ressourcen. Dabei entsteht rasch der gleiche Entdeckerdrang wie in Fallout, Skyrim oder auch Red Dead Redemption. Am Horizont ist eine seltsame Ruine zu sehen? Nichts wie hin! Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem Bunker vorbei? Den erkunden wir rasch. Unweit vom Bunker ist ein Hubschrauber abgestürzt? Da könnte etwas Wertvolles drin sein... Es ist nicht schwer, in Atomfall zu versinken, weil ständig irgendwo etwas Neues zu finden ist. So etwas wie Quest-Marker gibt es in Atomfall übrigens nicht. Missionen werden lediglich als "Hinweise" im Menü gespeichert und wir dürfen selbst entscheiden, wie und wann wir welchen Hinweisen nachgehen, um der zunehmend spannenden Hauptstory oder zahlreichen Side-Quests nachzugehen.
Von Robotern und Druiden
Bei unseren Erkundungstouren warten genretypisch überall Feinde darauf, von uns ins Jenseits befördert zu werden. Dazu dürfen wir verschiedenste Schlag- und Schusswaffen sowie unterschiedliche Sprengsätze verwenden. Das Kampfsystem ist nicht sonderlich komplex, aber zweckmäßig. Analog dazu sind auch die Gegner nicht sonderlich intelligent, aufgrund beachtlicher Kondition jedoch nicht zu unterschätzen. Vor allem die Roboter sind wortwörtlich brandgefährlich. In dunkleren Gebieten, wie etwa Höhlen oder der oben erwähnten Forschungsanlage, ist eine Taschenlampe hilfreich, allerdings kann unser Charakter dann keine Waffe mehr verwenden, was etwas nervig sein kann. NPCs, die nicht gleich als Feinde auftreten, bieten uns häufig Aufträge an oder möchten mit uns Handel treiben.
Grundsätzlich zeigen sich viele Parallelen zu Fallout: Was dort die Raider sind, sind hier die sogenannten Gesetzlosen oder Druiden. In Fallout gibt es mutierte Ghule, hier blau leuchtende Wilde. In Fallout patrouillieren Steampunk-Roboter, in Atomfall ähnlich aussehende B.A.R.D.-Roboter (B.A.R.D. = British Atomic Research Division) mit Flammenwerfern oder Maschinengewehren. In Fallout können wir uns der Bruderschaft oder den Rangers anschließen, hier den Protokoll-Soldaten.
Sogar die Magazine und Bücher aus Fallout, mit denen neue Skills erlernt werden, haben es in ähnlicher Form in Atomfall geschafft. Darüber hinaus gibt es einen umfangreichen Fähigkeitenbaum sowie die Möglichkeit diverse Items - passende Rezepte und Ressourcen vorausgesetzt - zu craften.
Die Gemeinsamkeiten mit Fallout sind zahlreich. Was ist anders? Nun, mit den meisten freundlichen NPCs können wir nicht interagieren. Das heißt, sie stehen oder laufen willkürlich in der Gegend (hauptsächlich im Dorf Wyndham) herum und dienen im Prinzip nur der Zierde. Ansprechen dürfen wir NPCs ausschließlich dann, wenn sie für die Story relevante Informationen haben oder Händler sind. Letztere haben kein Interesse an Geld, denn innerhalb der Quarantänezone gibt es keine gültige Währung mehr. Damit trotzdem Handel betrieben werden kann, haben sich die Entwickler ein cooles System ausgedacht, bei dem gleichwertige Waren getauscht werden können. Das System kommt ohne numerische Werte aus und setzt stattdessen auf eine Waage, die uns zeigt, ob unser Geschäft für beide Seiten fair ist. Wenn wir beispielsweise eine Cornwall-Teigtasche und eine Handgranate gegen Schrotpatronen und einen Molotov-Cocktail tauschen wollen, zeigt sich die Waage im Gleichgewicht und der Deal kann über die Bühne gehen. Um ohne Tauschhandel an begehrte Gegenstände zu kommen, durchforsten wir Ruinen, Bunker und Höhlen oder verwenden einen Metalldetektor, der an bestimmten Stellen im Spiel unsere Aufmerksamkeit verlangt.
Anders als in ähnlichen Rollenspielen gibt es in Atomfall außerdem weder einen realistischen Tag-/Nacht-Rhythmus noch verschiedene Wetterverhältnisse. Mit anderen Worten: Es scheint immer die Sonne. Dementsprechend gibt es auch keine Betten, in denen wir uns ausruhen können. Auch mutierte Tiere suchen wir in der Regel vergeblich, wobei wir in Höhlen von Ratten oder Fledermäusen und im Freien auch von Raben angegriffen werden können. Hin und wieder begegnen wir zudem toten Tieren, die blau leuchten und explodieren, wenn wir ihnen zu nahe kommen.
Was ebenfalls anders ist: Der typische Fallout-Humor fehlt hier völlig. Charaktere und Dialoge sind deutlich nüchterner. So bleibt kaum eine Figur nachhaltig im Gedächtnis. Vor allem während den letzten Spielstunden wird die Hauptstory mit sechs verschiedenen möglichen Enden jedoch so interessant, dass das nicht weiter problematisch ist.
Teilweise altbackene Technik, aber stimmige Präsentation
Der wohl größte Unterschied zu Fallout ist zweifellos das Setting. Während uns die verschiedenen Fallout-Teile stets ein tristes Ödland in den Vereinigten Staaten erkunden lassen, ist die Welt von Atomfall überraschend bunt und ausgesprochen britisch. Die Ruinen im Spiel stehen auf saftig grünen Hügeln oder in moosigen Wäldern mit vielen kleinen Flüssen und Bächen. Die einzige Ortschaft, Wyndham, ist ein typisch englisches Dorf mit engen Straßen und kleinen, aus Natursteinen gebauten Häusern mit spitzen Satteldächern. Neben mehreren Wohnhäusern gibt es eine Dorfkneipe, eine Bäckerei und eine alte Kirche. An vereinzelten Plätzen sind sogar Gartenzwerge mit britischer Flagge zu finden. Auch die Charaktere sprechen natürlich ausschließlich britisches Englisch.
Das Spiel entwickelt so einen ganz eigenen und sehr europäischen Charme, der schnell darüber hinwegtröstet, dass manche Teile von Atomfall etwas altbacken daherkommen. So wirken die NPCs während Dialogen etwa sehr steif, und beim Erreichen neuer Gebiete oder beim Betreten vieler Gebäude erscheint kurz ein Ladebildschirm. Hier merkt man, dass Atomfall nicht exklusiv für die aktuelle Konsolengeneration entwickelt wurde. Den Untertiteln und Menütexten merkt man derweil an, dass sie mit einer Übersetzungs-KI erstellt wurden, denn so manche Übersetzung kommt etwas holprig daher. In Sperrgebieten wird beispielsweise ständig das Wort "Eindringen" eingeblendet und neue Informationen müssen wir "ablehnen", damit sich das jeweilige Textfenster schließt.
Abgesehen davon fackelt Atomfall sicher kein Grafikfeuerwerk ab. Die hier verwendete Asura Engine arbeitet auf dem Niveau der Unreal Engine 4, nicht 5. Das Spiel läuft aber stets flüssig und überzeugt mit einem hohen Detailgrad, satten Farben, knackigen Texturen und einem stimmigen Design. Und auch wenn dieser Vergleich etwas unfair ist: Dem vierten und damit letzten Fallout-Teil, der immerhin schon 2015 erschienen ist, ist Atomfall optisch natürlich deutlich überlegen.
Fazit
Atomfall spielt sich in vielerlei Hinsicht wie ein älteres Bethesda-Rollenspiel. Die Gemeinsamkeiten mit Fallout und zum Teil sogar The Elder Scrolls sind unverkennbar, wobei die Welt von Atomfall nicht so riesig ist und dem Spieler etwas weniger Freiheiten einräumt. Rebellions Fallout: Windscale ist dafür aber fast gänzlich frei von Bugs und bietet uns ein frisches, deutlich grüneres Setting im Nordwesten Englands, eine größtenteils zeitgemäße Optik und eine interessante Hauptstory mit multiplen Enden.
Aktuell werkelt Bethesda bekanntermaßen an einem Nachfolger zu Skyrim. Wann der nächste Fallout-Teil erscheint, weiß niemand. Vermutlich vergehen bis dahin noch etliche Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Atomfall hat kleinere Schwächen, ist aber ein ordentlicher Ersatz. Wer mit Fallout Spaß hatte, wird sich in der Quarantänezone von Windscale schnell heimisch fühlen und rund 15 Stunden hochwertige Unterhaltung finden, die durch das Beenden aller Side-Quests noch gestreckt werden können.
