Tin Hearts
Hinter jeder brillanten Erfindung steckt eine magische Geschichte. Diese These halten wir zwar derart allgemein formuliert für einigermaßen kühn, doch im Fall der uns vorliegenden Testversion des Rätselspiels Tin Hearts könnten die Mitglieder des britischen Studios Rogue Sun, die sich zuvor bei der Entwicklung der Fable-Spielreihe kennengelernt haben, durchaus recht haben. Um aber ganz sicher zu gehen, haben wir uns den Titel, der jetzt auf der Switch und in zwei Wochen auf dem PC und den Konsolen der Konkurrenz verfügbar ist, einmal genauer angesehen.
Es war einmal im viktorianischen Zeitalter
Tin Hearts erzählt die Geschichte des Erfinders und Spielzeugmachers Albert J. Buttersworth, seiner Frau Helen sowie der gemeinsamen Tochter Rose. Die Familie lebt im England des 19. Jahrhunderts in einem beschaulichen Haus, in dem Rose aufwächst, Helen musiziert und Albert seine Spielzeuge erfindet, die im regulären Spiel die Hauptrolle spielen. Die Handlung wird zwischend und während der einzelnen Leveln erzählt, beispielsweise wenn ihr ein neues Zimmer des Hauses betretet oder im Verlauf eines Rätsels einen bestimmten Punkt erreicht. Die Charaktere erscheinen dann geisterhaft, wie in einer Erinnerung und enthüllen durch ihre Dialoge nach und nach die Geschichte der Familie, die ihre emotionalen Höhe- und Tiefpunkte hat, was sich teilweise auch auf die Gestaltung der Umgebung auswirkt: In glücklichen Zeiten untermalen helle Farben und Sonnenschein das Geschehen, während es in traurigen Momenten entsprechend düster zugeht. Zusätzliche Elemente in der Welt, wie Urkunden an der Wand oder Briefe auf Schreibtischen, bieten weitere Informationen, die euch, wie die Dialoge der Figuren, englisch synchronisiert und mit deutschen Untertiteln präsentiert werden.
Es dauert ein wenig, ehe die Handlung Fahrt aufnimmt, doch die Entwickler haben die Geschichte mit viel Liebe und Sorgfalt gestaltet, sodass es sich immer lohnt, dem Geschehen Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn ihr gedanklich gerade voll mit der nächsten Strecke für eure Zinnsoldaten beschäftigt seid.
Mit Kanonen auf Bauklötzchen
Eure Aufgabe in Tin Hearts ist schnell erklärt: Bringt möglichst viele Spielzeug-Zinnsoldaten in den Zimmern des Hauses der Familie unbeschadet vom Startpunkt zu ihrem Ziel. Das Prinzip ist aus Klassikern wie “Lemmings” oder “Mario vs. Donkey Kong” bekannt und spielt sich auch ähnlich, denn einmal aus ihrer Kiste gelassen, marschieren die kleinen Soldaten stur geradeaus, bis sie von einem Gegenstand abprallen oder in einen Abgrund stürzen. Nach und nach erlernt ihr die unterschiedlichen Spiel-Mechaniken, meist in Form von Spielzeugen, die ihr ab dem Moment der Freischaltung dauerhaft nutzen könnt, um die euch gestellten Aufgaben zu erfüllen. Bauklötze lenken beispielsweise den Weg der Soldaten um, Luftballons lassen sie über Abgründe fliegen und kleine Kanonen können Hindernisse umwerfen und damit neue Wege eröffnen. Die mit Abstand wichtigste Fähigkeit ist allerdings die Kontrolle über die Zeit, die ihr beschleunigen, zurückspulen und sogar anhalten könnt. Ist die Zeit gestoppt, könnt ihr euch weiterhin normal durch den Raum bewegen und Gegenstände positionieren, während das Spiel euch den zukünftigen Laufwerk der Figürchen anzeigt, die ihr auf diese Weise euren Wünschen entsprechend steuert. Durch diese Mechanik spielt sich Tin Hearts überaus entspannt und fordert von euch kaum Reaktionsvermögen. Stattdessen gilt es, die zum Erreichen des Ziels zu erledigenden Aufgaben, sowie die Wege zu ihnen herauszufinden und diese mit den gegebenen Mitteln zu realisieren. In späteren Leveln leichter gesagt als getan, wobei das Spiel dank der klug gemachten Rätsel zwar fordernd, aber nie unfair wird.
Zur Eingewöhnung hält das Spiel die Lernkurve anfangs relativ flach und nach den ersten Leveln wirkt es zunächst so, als könnte Tin Hearts in wenigen Stunden durchgespielt werden. Doch mit der Zeit werden die Rätsel zunehmend komplexer und können stellenweise das mehrfache Durchqueren eines Raumes erfordern, sodass ihr für das erste Durchspielen 30 Stunden Zeit einplanen könnt. Geschaffte Level können immer wieder besucht werden und diverse im Spiel verfügbare Erfolge bieten weiteren Anreiz, die Rätsel auf ungewohnten Wegen noch einmal zu lösen und schaffen so zusätzlichen Wiederspielwert. Dass der Titel derlei Mechaniken aber gar nicht nötig hat, um seinen Wert zu beweisen, zeigt neben der einfühlsam erzählten Geschichte und den toll gestalteten Leveln auch der Preis des am meisten erwarteten Spiels für die Nintendo Switch, den Tin Hearts im letzten Jahr auf der Gamescom gewonnen hat.
Im Stechschritt flüssiger als stehend
Während unseres Tests konnte uns Tin Hearts nicht nur spielerisch, sondern auch technisch beinahe durchgehend überzeugen. Die Grafik, obwohl Switch-üblich leicht verwaschen, sieht auf dem Handheld und großen Bildschirmen ansprechend aus, während das System Objekte, die ihr nutzen könnt, unter eurem Cursor hervorhebt, sodass die Interaktion keine Probleme macht. Der Soundtrack passt hervorragend zur Geschichte und unterlegt diese mit ruhiger instrumentaler Musik und auch bei den Sprechern der drei Familienmitglieder gibt es nichts zu beanstanden. Die Steuerung, die bei dreidimensionalen Rätselspielen gerne mal Probleme bereitet, funktioniert die meiste Zeit über sehr gut und das System bietet beim Anordnen von Bauklötzen und anderen Elementen ein wenig Spielraum, wodurch Objekte nicht auf den Pixel genau angeordnen werden müssen, damit eure Zinnsoldaten den richtigen Weg finden. Die Ladezeiten des Spiels gehen in Ordnung, ohne besonders zu begeistern oder zu frustrieren. Einzig die Funktion mit der ihr die Zeit anhalten könnt kann in vereinzelten Fällen Probleme bereiten, wenn ihr sie zu lange aktiviert lasst und dann mit möglichen zukünftigen Strecken experimentiert: In vereinzelten Fällen kam die Switch mit dem Ausrechnen der zukünftigen Routen der Soldaten nicht mehr hinterher, wodurch das Spiel und die Steuerung sehr ruckelig wurden. Das Problem erledigte sich aber von selbst, als wir die Zeit für eine Sekunde wieder normal weiterlaufen ließen (man kann ja immer wieder zurückspulen) und beim nächsten Zeit-Stopp lief alles so sauber und flüssig wie gewohnt.
Fazit:
Tin Hearts vereint kluge Rätsel mit einer emotionalen Geschichte und präsentiert das Ganze mit einem schönen Soundtrack und einer ansprechenden, wenn auch nicht umwerfenden Grafik. Die Möglichkeit, mitten im Spiel die Zeit zu kontrollieren, entschleunigt das Geschehen auf dem Bildschirm, ohne die gestellten Aufgaben zu trivialisieren. Und dem Marsch der kleinen Zinnsoldaten zuzusehen, nachdem man deren Weg vorher minutiös ausgekundschaftet und vorbereitet hat, macht einfach Spaß und wirkt wie eine Belohnung für die vorherige Tüftelei, die sich aber nie nach Arbeit anfühlt. Für Freunde von schrillen Charakteren und schneller Action mag Tin Hearts vielleicht ein wenig zu ruhig sein. Wer sich aber gerne nach einem langen Tag mit ein wenig Rätselspaß auf der Couch entspannen möchte, kann (und sollte) hier bedenkenlos zugreifen.