Test

ERICA

Von Jeremiah David am 31.08.2019

Die Grenzen zwischen Film und Spiel sind in den letzten Jahren immer mehr verschwommen. Titel wie Until Dawn, Life is Strange oder Detroit: Become Human bieten kaum mehr traditionelles Gameplay und setzen stattdessen auf eine komplexe Story und viel Entscheidungsfreiheit. In mancherlei Hinsicht lässt sich argumentieren, dass es sich hierbei bereits mehr um interaktive Filme als um richtige Spiele handelt.

Was Until Dawn und Co unter den Spielen sind, das ist ERICA unter den Filmen. Auch hier verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Film, aber ERICA ist als interaktiver Live-Action-Mystery-Thriller in Spielfilmlänge ganz klar mehr auf der Film-Seite. Das Werk des Entwicklers Flavourworks unterscheidet sich von herkömmlichen Filmen praktisch nur in einem einzigen Punkt: Wir können mit verschiedenen Entscheidungen die Handlung beeinflussen und so letztlich eines von fünf Enden „freispielen“.

ERICA erzählt – wenig überraschend – die Geschichte einer jungen Frau namens Erica (dargestellt von der britischen Schauspielerin Holly Earl), die seit Jahren von Albträumen und mysteriösen Visionen geplagt wird. Während ihrer Kindheit wurde ihr Vater ermordet und die Erinnerungen an den maskierten Täter verfolgen sie seitdem. Noch viel schlimmer wird alles jedoch, als sie mit der Post ein seltsames Paket erhält und im Innern eine menschliche Hand findet. Ein seltsames Symbol im Paket wurde vor Jahren auch in die Brust ihres Vaters geritzt, und so rollt die Polizei den damals nie geklärten Fall noch einmal auf und bringt Erica zum eigenen Schutz in eine psychiatrische Einrichtung für Frauen.

Das "Gameplay"

Während sich diese Ereignisse entfalten, dürfen wir als Zuschauer wahlweise mit dem Touchpad des Dual-Shock-4 oder besser noch mit einem Smartphone immer wieder Entscheidungen treffen, um den Film auf unterschiedliche Art und Weise voranzutreiben. Dabei sollte betont werden, dass wirklich nur das Touchpad durch Wischbewegungen bedient werden kann. Die Tasten des Controllers bleiben stets ohne Funktion. Auf dem Smartphone muss eine App installiert werden, die in der Praxis genauso funktioniert wie das Touchpad des Controllers, die passenden Bewegungsmuster fürs Wischen allerdings zusätzlich auf dem Handybildschirm anzeigt und so zweifelsohne das „Spielen“ erleichtert.

Die Interaktionsmöglichkeiten in ERICA lassen sich in drei Kategorien aufteilen. Während den Dialogen können wir immer wieder wählen, welche Antwort unsere titelgebende Protagonistin auf eine Frage geben oder mit welcher Aussage sie auf Gesagtes reagieren soll. Hierzu werden in der Regel ein paar Schlagwörter eingeblendet. Interessant ist, dass Schweigen grundsätzlich ebenfalls eine Option darstellt, was zur Folge hat, dass wir uns für jede Entscheidung nie mehr als ein paar Sekunden zeitlassen können. Trotz der vielen kleinen Unterbrechungen besitzt ERICA als Film so ein überraschend normales Tempo und wirkt im Vergleich mit anderen FMV-Spielen viel cineastischer.

Abseits der Dialoge haben wir Einfluss auf eine Handvoll weiterer Entscheidungen. So läutet an der vorübergehend verlassenen Rezeption der psychiatrischen Anstalt beispielsweise ein altes Telefon und Erica kann das Gespräch entweder annehmen oder das Läuten einfach ignorieren. An selbiger Rezeptionstheke kann sie eine Glocke einmal betätigen, um einen Rezeptionisten zu rufen, oder aber auch mehrmals ungeduldig auf die Glocke schlagen - die Reaktion ist dann natürlich eine andere.

Die dritte Interaktionsmöglichkeit erinnert enorm an die Spiele von Detroit: Become Human-Entwickler Quantic Dream. Mit bestimmten Bewegungen auf dem Smartphone oder dem Touchpad führt Erica regelmäßig verschiedene, alltägliche Tätigkeiten aus: Zum Durchblättern ihres Skizzenbuchs muss beispielsweise mehrfach von rechts nach links über das Smartphone gewischt werden, eine Bewegung nach unten bedient anderswo ein Feuerzeug, eine Bewegung nach oben öffnet wiederum eine Mappe. Ähnliche Beispiele sind zahlreich, und es sind vor allem diese banalen Abläufe, die dazu beitragen, dass in ERICA alle 10 bis 15 Sekunden eine Interaktion vom Zuschauer getätigt werden muss. Vermutlich sollen wir uns so noch mehr in Erica hineinversetzen können, tatsächlich wirken sie häufig jedoch einfach nur unnötig. Glücklicherweise sind die Bewegungsmuster so simpel, dass sie mit der Zeit kaum noch auffallen und nicht wirklich stören.

Kinoreife Inszenierung

ERICA lässt sich nicht mit anderen Spielen vergleichen und ebenso wenig sollte der Titel nach konventionellen Spiele-Aspekten bewertet werden. Dafür fällt ein Vergleich mit herkömmlichen Filmen leichter: Während das hier Gebotene technisch und dramaturgisch nicht mit den größten Hollywood-Produktionen mithalten kann, ist es mindestens auf dem Niveau einer TV- oder Netflix-Serie und meilenweit vom meist trashigen Flair anderer FMV-Titel entfernt. Das Setting ist atmosphärisch und der Soundtrack von Austin Wintory, der bereits die Musik für Journey und Assassin's Creed Syndicate komponierte, passt wunderbar zum Geschehen. Auch die Schauspieler sind mehr als ordentlich und liefern mit wenigen Ausnahmen solide bis sehr gute Vorstellungen ab. Man merkt, dass fünf Jahre und viel Herzblut in die Entwicklung des Titels flossen.

ERICAs größte Schwäche liegt in der Geschichte, die paradoxer Weise gleichzeitig eine Stärke darstellt. Trotz einiger Logikfehler wird Erikas Geschichte sehr spannend erzählt, aber für einen einzelnen Durchlauf ist sie schlicht zu komplex. Wer alles erfahren und hinter wirklich jedes Geheimnis kommen möchte, muss ERICA zwangsläufig mehrmals „durchspielen“. Das ist von den Entwicklern auch so gewollt, hat aber zur Folge, dass jeder ERICA-Durchlauf für sich genommen irgendwie unfertig wirkt. Es gibt keinen perfekten Durchlauf; kein Ende, das alles zufriedenstellend abrundet. Die einzelnen Durchläufe sind qualitativ zudem nicht gleichwertig. Ein paar zum Teil recht banal erscheinende Entscheidungen können mit etwas Pech dafür sorgen, dass die Geschichte sehr wirr daherkommt und wenig Sinn ergibt. Entsprechend werden dann auch die Meinungen zum Film ausfallen.

Die Entwickler hätten sicher mehr Handlungsfäden in einen einzigen, längeren Durchgang integrieren können. So aber hat man das Gefühl, dass ein drei bis vier Stunden langer Film mit Hilfe zahlreicher Wiederholungen einfach in fünf anderthalb Stunden lange Filme zerstückelt wurde, von denen manche mehr Sinn ergeben als andere.

Fazit:

ERICA ist ein kompetent erzählter Mystery-Thriller mit atmosphärischem Setting, größtenteils guten Schauspielern und einem gelungenen Soundtrack. Ein erstes Durchspielen wirft jedoch mindestens so viele Fragen auf, wie es beantwortet, und nicht jeder Durchlauf führt zu einem kohärenten Ergebnis. Damit steigert sich der Wiederspielwert, doch nicht alle Spieler werden ERICA drei-, vier- oder gar fünfmal durchspielen wollen. Zum Budgetpreis von 9,99 Euro ist ERICA allerdings allemal einen Blick wert, und besonders in geselliger Runde, wenn über zu treffende Entscheidungen diskutiert werden kann, bietet ERICA ein einmaliges Spiel- oder vielmehr Filmerlebnis.

Hinweis: ERICA erfordert einen 40 GB großen Download. Bereits nach etwa 20 GB lässt sich der Film starten, allerdings sollte je nach DSL-Geschwindigkeit der komplette Download abgewartet werden, um später einen plötzlichen Abbruch zu vermeiden.

Unsere Wertung:
7.0
Jeremiah David meint: "Atmosphärischer Mystery-Thriller, der jedoch durch mehrmaliges Durchspielen in die Länge gezogen wird "
ERICA erscheint für PlayStation 4. Wir haben die Version für PlayStation 4 getestet.
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