Test

Martha Is Dead

Von Jeremiah David am 24.02.2022

Das italienische Entwicklerstudio LKA dürfte nur wenigen Gamern ein Begriff sein. Das zehnköpfige Team veröffentlichte 2016 die Walking-Sim The Town of Light, das von Kritikern mit gemischten Emotionen aufgenommen wurde. Martha Is Dead ist erst der zweite Titel des Studios, soll aber natürlich vieles besser machen als das Erstlingswerk. LKA verspricht einen „düsteren Psychothriller aus der Ich-Perspektive“, der „die Grenzen zwischen Realität, Aberglauben und der Tragödie des Krieges verwischt“. Kann der Entwickler sein Versprechen halten? Wir haben das Spiel für euch getestet!

Es war einmal…

Wir Deutsche sind (oder waren) bekannt dafür, unsere Kinder mit düsteren Erzählungen aufwachsen zu lassen. Die meisten Märchen der Gebrüder Grimm sind strenggenommen wenig kindgerecht. In Hänsel und Gretel wird eine Frau bei lebendigem Leibe verbrannt. In Rotkäppchen wird eine Großmutter gefressen. Auch andere Klassiker wie Max und Moritz oder der Struwwelpeter sind nichts für zarte Gemüter. In Italien gibt es offenbar ähnlich finstere Geschichten, und so besteht die noch sehr junge Giulia im Jahre 1929 darauf, dass man ihr die Legende einer weißen Dame erzählt, die angeblich im nahen See haust und dort im Nebel regelmäßig Männer tötet, weil ihr Geliebter einst von einem eifersüchtigen Mann ermordet wurde.

Trotz ihrer jungen Jahre mag Giulia die Geschichte, die ihr mit schwarzweißen, makabren Illustrationen nähergebracht wird. Vielleicht gefällt ihr die Legende deshalb so sehr, weil sie generell kein sonderlich glückliches Mädchen ist. Ihre Zwillingsschwester Martha kam taubstumm auf die Welt und ihre Mutter gibt Giulia aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Schuld an der Behinderung. Martha ist bei allen im Ort beliebt, Giulia gilt als Flittchen und Tunichtgut. Davon abgesehen sind die Jahre nach 1930 schlicht keine gute Zeit für das italienische Volk, das vom faschistischen Diktator Mussolini regiert wird. Der zweite Weltkrieg steht kurz bevor.

1944 hat Giulia als junge Erwachsene die Legende aus ihrer Kindheit längst vergessen. Sie will am See nur Tiere fotografieren, als sie durch den Sucher ihrer Kamera eine Leiche im Wasser entdeckt. Um wen es sich handelt, verrät der Titel des Spiels bereits. Giulias Schwester Martha ist tot.

Unter welchen Umständen die junge Frau ums Leben kam, ist zunächst ungewiss, ein Mord scheint jedoch wahrscheinlich. Kurios ist außerdem, dass Martha eines von Giulias Kleidern trägt. Giulia zieht den leblosen Körper an Land und nimmt ein Kettchen und einen Anhänger mit der Aufschrift „Martha“ an sich – eine Tat, die noch ungeahnte Folgen haben soll, denn ohne den Anhänger hält ihre Mutter wenig später die ungeliebte Giulia für tot. Giulia selbst fällt es in ihrer Schockstarre nicht schwer, so zu tun, als wäre sie stumm. Sie schlüpft in die Rolle ihrer Schwester und lebt fortan deren Leben.

Gewissensbisse

In Marthas Rolle sollte es Giulia eigentlich besser gehen, aber im Schlaf wird sie von Albträumen geplagt und auch im wachen Zustand hat sie beunruhigende Halluzinationen. Darüber hinaus nagen Gewissensbisse an ihr. Sie schämt sich dafür, das Leben ihrer toten Schwester übernommen zu haben und will alles tun, um herauszufinden, wie und wieso Martha ums Leben kam. Die komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter und die Tatsache, dass ihr Vater ein deutscher General der Nationalsozialisten ist, machen alles nicht leichter. Das Spiel entwickelt sich nachfolgend zu einer Mischung aus interaktivem Drama und Psycho-Thriller mit Betonung auf dem Wort Psycho. Einige Horror-Elementen sind ebenfalls vorhanden, sind jedoch dezent gesetzt und machen aus dem meist eher ruhigen Spiel noch lange kein Horrorspiel. Martha Is Dead behandelt vorrangig Themen wie Depression, häusliche Gewalt und Suizidgedanken – also eine ganz andere Form von Horror als in Resident Evil, Outlast und co.

Vor der Veröffentlichung sorgte eine Meldung auf Twitter für Aufsehen. Publisher Wired Productions gab an, Sony würde das Spiel nur geschnitten auf die PlayStation lassen. Das ist streng genommen zwar richtig, aber Martha Is Dead beginnt – zumindest in der von uns getesteten Pre-Release-Fassung – mit einem Bildschirm, der vor "unangenehmen Szenen" warnt, bevor er den Spieler entscheiden lässt, ob dieser eine zensierte oder unzensierte Fassung spielen möchte – letztlich wurde hier also wohl aus einer Mücke ein Elefant gemacht. Die unzensierte Version beinhaltet zwei blutige Szenen, die zartbesaitete Spieler als verstörend erachten könnten, verliert sich aber mitnichten in Splatterorgien.

Als Spieler bewegen wir Giulia zu unterschiedlichen Tageszeiten oder auch nachts durch die Zimmer im toskanischen Anwesen ihrer Eltern, laufen durch den nahen Wald, besuchen den Friedhof oder gehen ans Ufer des Sees, wo Martha gefunden wurde. Mit dem Touchpad des Dual-Sense-Controllers lässt sich ein Menü öffnen, das eine Übersicht aller erhältlichen Aufgaben bietet. Neben den für die Story relevanten Missionen warten noch einige simple Sidequests darauf, erledigt zu werden. So kann Giulia beispielsweise eine Luftpumpe suchen, um einen platten Reifen an ihrem Fahrrad aufzupumpen oder in der Tageszeitung lesen, um die neusten Ereignisse rund um den Krieg mitzubekommen.

Überraschend gute Technik, aber zu viele Bugs

Während LKAs Erstlingswerk The Town of Light noch mit der Unity Engine entwickelt wurde und optisch alles andere als ein Augenschmaus war, setzt Martha Is Dead auf die Unreal Engine und überzeugt größtenteils mit sehr schön ausgearbeiteten Umgebungen, realistischen Gegenstandsmodellen, hochwertigen Texturen sowie guten Licht- und Nebeleffekten. Auch die Framerate ist konstant. Insgesamt kann Martha Is Dead sicher nicht mit den größten Blockbustern der Videospielbranche mithalten, erreicht aber überraschend häufig das Niveau einer AA-Produktion, was angesichts des sehr kleinen Entwicklerstudios aller Ehren wert ist. Das toskanische Setting wirkt zudem frisch und verleiht dem Spiel ein einzigartiges Flair.

Ähnlich gelungen ist auch die Akustik des Spiels. Viele Gegenstände, Fotos und Briefe können vom Spieler untersucht werden. Auf Knopfdruck spricht Giulia dann über das jeweilige Objekt. Manchmal beginnt sie auch von sich aus einen Monolog, um in Erinnerungen zu schwelgen oder von wichtigen Ereignissen zu berichten. Dann erinnert Martha Is Dead an Siele wie What Remains of Edith Finch oder The Suicide of Rachel Foster. Die Sprachausgabe ist standardmäßig italienisch, aber auch eine deutsche und englische Tonspur sind vorhanden. Hervorzuheben sind außerdem authentische, italienische Lieder, die aus so manchem alten Radio dröhnen, sowie einige wunderbar atmosphärische Soundeffekte.

Weniger schön ist dagegen, dass Martha Is Dead leider nicht frei von Bugs ist. Während unserem Test stürzte das Spiel mehrfach einfach ab. Einmal hingen wir mit Giulia wörtlich im Boden fest und konnten uns nicht mehr bewegen, ein andermal wurden Lichtquellen nicht geladen, wodurch weite Teile des Spiels in absoluter Schwärze versanken. Wieder anderswo wurden Audiospuren mehrfach wiederholt. Dass solche und ähnliche Fehler unseren Spielspaß nicht zu sehr ausbremsten, ist nur der Tatsache zu verdanken, dass automatische Checkpoints sehr häufig gesetzt werden. Selten gingen durch das Laden des letzten Speicherstandes mehr als ein oder zwei Minuten Spielzeit verloren. In der Regel waren es nur ein paar Sekunden. Wir hoffen dennoch, dass zeitnah zum Release ein Patch bereitsteht, der einige dieser Fehler behebt.

Limitiertes, aber einzigartiges Gameplay

Es sollte an dieser Stelle niemanden mehr überraschen, dass Martha Is Dead vor Allem von seiner Story lebt. Es geht darum, Giulias Geisteszustand zu erkunden und immer weiter in die dortigen Abgründe vorzudringen. Im Spiel gibt es keine Gegner und nur wenige Rätsel. Giulia kann weder springen noch klettern. Auch Dialogoptionen entfallen, schließlich mimt die junge Frau über weite Teile des Spiels hinweg eine Taubstumme. Aber Martha Is Dead ist dennoch mehr als ein einfacher Walking-Simulator. Das liegt zum einen daran, dass es etliche Items zu finden und einzusetzen gilt, aber auch daran, dass die Fotografie ein Kernelement des Spiels darstellt. Giulia ist im Besitz einer Kamera, die mit verschiedenen Objektiven, unterschiedlichen Filmarten, einem Stativ und einem Blitz ausgestattet werden kann. An bestimmten Orten muss sie Fotos von Gegenständen oder Personen schießen. Dabei gilt es, auf verschiedene Einstellungen zu achten, um das jeweilige Motiv angesichts verschiedener Lichtverhältnisse drinnen oder draußen nicht zu dunkel, zu hell oder gar verschwommen abzulichten. Ein Infrarotfilm hilft beim Festhalten von Dingen, die mit bloßem Auge unsichtbar sind. Im Keller ihres Wohnhauses müssen alle Fotos außerdem in einer Dunkelkammer entwickelt werden, wobei auch hier ein paar Schritte zu beachten sind, um die Bilder perfekt belichtet in der eigenen Sammlung ablegen zu können. Dass sich die Damen und Herren von LKA mit der analogen Fotografie auskennen, wird spätestens dann klar, wenn Texteinblendungen erklären, welche Schritte bei der Entwicklung der Filme im Spiel übersprungen werden, um den Spieler nicht zu lange in der Dunkelkammer festzuhalten.

Aufgelockert wird das etwas limitierte Gameplay außerdem durch einige Puppenspiel-Szenen und surreale Fluchtsequenzen. Während letzteren hastet Giulia panisch durch den Wald und ist nicht mehr zu bremsen. Als Spieler dürfen wir lediglich entscheiden, in welche Richtung sie rennen soll. Dazu drücken wir den Analogstick an Weggabelungen entweder nach links oder rechts. Welcher Weg der richtige ist, müssen wir mit Hilfe von in der Luft schwebenden Wörtern herausfinden. Korrekt zusammengesetzt ergeben die einzelnen Wörter jeweils einen Satz, der Giulias Geisteszustand widerspiegelt. Das ist spielerisch nicht anspruchsvoll, aber trotzdem cool gemacht.

Fazit

Martha Is Dead ist in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Spiel. Das toskanische Setting ist unverbraucht, und während der zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus natürlich schon oft in Spielen vorkamen, so dürfen wir hier erstmals in die Rolle einer Tochter eines deutschen Generals schlüpfen und so den Krieg durch die Augen einer eigentlich unbeteiligten Person in einem zunächst nicht direkt beeinflussten Landstrich sehen. Die Technik kann trotz etlicher kleiner Mängel überzeugen, die Sprecher machen einen guten Job. Martha Is Dead ist aber zweifelsohne nicht für jedermann.

Wer klassisches Gameplay erwartet, wird enttäuscht sein. Gleiches gilt für Spieler, die eine spannende Story mit einem glücklichen Ende erleben wollen. Martha Is Dead ist stattdessen ein Slow-Burner, der über die rund sechs Stunden Spielzeit hinweg den fragilen Geisteszustand einer einzigen, psychotischen Person erkundet. Das tut das Spiel aber gewiss nicht schlecht. Speziell im letzten Viertel wird Giulias Reise in den Wahnsinn auf beeindruckende Art und Weise erzählt und das Ende dürfte den meisten Spielern noch einige Zeit im Gedächtnis bleiben.

Unsere Wertung:
7.0
Jeremiah David meint: "Mehr Psycho als Thriller, aber für Genre-Fans empfehlenswert."
Martha Is Dead von LKA erscheint am 24.02.2022 für PC und PlayStation 4 und PlayStation 5 und XBox One und XBox Series. Wir haben die Version für PlayStation 5 getestet. Für diesen Test wurde uns ein Rezensionsexemplar von Wired Productions zur Verfügung gestellt.
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